Camp 6 ist eine Baustelle. Arbeiter mit Helmen und orangefarbenen Westen schlängeln sich durch die Drahtschleusen und Betonbarrikaden des Gefangenenlagers. Im Innenhof stapelt sich das Baumaterial. Ein dritter Platz für den Freigang ist im Bau sowie neue Zellenhöfe für den F-Block. Um diese abgeschlossenen Einheiten aus Beton und Stahl gruppieren sich die Zellen auf zwei Ebenen. Die Häftlinge können dort unter Neonröhren und Tageslichtschächten gemeinsam essen. Im angrenzenden Camp 5 wird ein Klassenraum gebaut, für die ersten Fortbildungen im Hochsicherheitstrakt. In ihren letzten Wochen in Guantánamo sollen es die Gefangenen so gut wie möglich haben.
Eigentlich sind die Tage des berüchtigten Lagers am Südostzipfel Kubas gezählt. Seit Barack Obama an seinem ersten Tag als Präsident die Schließung des Lagers verfügte, hat Guantánamo ein Verfallsdatum: den 20. Januar 2010. Doch die Abwicklung des Lagers ist kompliziert, rechtlich - und vor allem politisch. Denn jeder Fehler im Camp kann zu einem Problem für den Präsidenten im Weißen Haus werden.
Neue Heimat Palau
Zelle um Zelle leert sich dieser Tage. Von den fast 800 Gefangenen, die hier durchgeschleust wurden, sind noch rund 230 im Lager. Allein in der vergangenen Woche reisten vier Uiguren auf die Bermuda-Inseln, ihre 13 Landsleute sollen eine neue Heimat auf der Südseeinsel Palau finden. Ein Häftling kehrte in den Tschad zurück, einer in den Irak. Am Wochenende wurden drei Männer in ihre Heimat Saudi-Arabien überstellt. US-Gerichte hatten die meisten Freilassungen angeordnet. Schon hier zeigte sich, wie schwierig es für die Regierung ist, Guantánamo aufzulösen. Und die wirklich komplizierten Fälle kommen erst noch.
Die sitzen in Camp 5 und 6. Hier scheint von dieser Umbruchstimmung nichts angekommen zu sein. Die Wächter drehen ihre Runden in den Zellenblocks, schieben das Essen durch die Metallschlitze in den schweren Türen. Sie tragen Visiere aus Plastik, um sich vor Wurfsendungen aus Fäkalien und Urin zu schützen - die Waffen der Insassen. Als "nicht gefügig" und gefährlich gelten viele der Häftlinge, die in diesem Teil des Lagers einsitzen. Auch die Obama-Regierung möchte sie ungern freilassen.
Ganz zu schweigen von den Gefangenen im geheimen Camp 7, von dem ein Militärsprecher sagt: "Wir können seine Existenz bestätigen, aber wir können seinen Standort nicht offenlegen." Camp 7 ist für Mitglieder der Chefetage von al-Kaida reserviert, die Männer, die Ex-Vizepräsident Dick Cheney "die Schlimmsten der Schlimmen" nennt. Er höhnte noch im Mai: "Ich glaube, dass es sehr schwierig wird, Guantánamo zu schließen."
Auch Obama ist klar, dass er sich mit seinem Versprechen viel vorgenommen hat. Seine Beamten müssen nicht nur aufnahmebereite Länder für die Entlassenen finden - eine komplizierte Aufgabe. Sie müssen auch Kriterien für die kommenden Monate entwickeln: Welcher der Insassen bleibt in Haft und auf welcher Grundlage? Wer wird einem zivilen Gericht überstellt? Welche Rolle spielen die umstrittenen Militärkommissionen, damit geheimdienstliche Informationen geheim bleiben und trotzdem im Prozess verwendet werden können? Noch fehlen viele Antworten darauf.
Washington ist weit weg
Für die Soldaten der "Joint Task Force", die das Lager verwaltet, ist Washington weit weg. Und solange nicht mal "die da oben" wissen, was Stand der Dinge ist, läuft hier alles wie bisher. Wer hier stationiert ist, kennt die Mission: Es geht um die "sichere, humane, legale und transparente Versorgung und Verwahrung der Gefangenen".
Bloß nichts mehr falsch machen. Denn Fehler wiegen in Guantánamo schwerer als an jedem anderen Ort. Was hier mit den Gefangenen geschieht, wird doppelt und dreifach unter die Lupe genommen. "Unsere Anweisung ist, sie wie Menschen zu behandeln, sie zu respektieren und dann zu hoffen, dass sie uns auch respektieren", sagt Daniel Wagner, einer der Wächter. Nur von der Außenwelt fühlt er sich ungerecht beurteilt: "Es ist manchmal frustrierend zu hören, wie die Leute über diesen Ort reden, obwohl sie keine Ahnung haben."
Häftlinge in Drahtkäfigen
Guantánamo. Mit diesem Ort verbinden viele vor allem jene dunklen ersten Tage zwischen Januar und April 2002, als die ersten Häftlinge aus Afghanistan im Camp X-Ray eintrafen. Die Bilder von orientierungslosen und gefesselten Gefangenen, die zu den Füßen grimmiger Wächter auf dem Boden zwischen einer Reihe von Drahtkäfigen kauerten, gingen damals um die Welt. Heute ist dieser Teil des Lagers geschlossen, doch der US-Kongress hat beschlossen, den Ort zu erhalten - als Beweis für spätere Untersuchungen.
Der Weg zu diesem Camp führt durch Schlammpfützen, die der heftige Tropenregen am Morgen hinterlassen hat. Der Lagereingang ist mit kniehohem Gras und wildem Weizen überwachsen. An den Wänden der Gitterkäfige, die einst als Zellen dienten, ranken gelbe Blumen, aus denen Kolibris ihren Nektar saugen. In fünf Holzbaracken mit morschen Bodenplanken fanden einst die berüchtigten Verhöre statt, bei denen Folter kein Tabu war.
Modernste Gefängnisarchitektur
Diese Zeiten sind offiziell vorbei. Camp 5 und 6, in den Jahren 2005 und 2006 für insgesamt 53 Mio. $ errichtet, zählen zum Modernsten, was Gefängnisarchitektur zu bieten hat - und noch ist das Geld nicht restlos verbaut. "Die Entscheidung, diese Veränderungen vorzunehmen, ist vor langer Zeit gefallen", sagt Leutnant Jeff Harris, der das Kommando über Camp 6 hat, die Bauwut. "Selbst wenn wir die neuen Bauten nur für einen Tag nutzen, hat es sich gelohnt."
Die Zellen in diesem Hochsicherheitstrakt haben mittlerweile saubere Kloschüsseln und Waschbecken aus Metall. In der Kantine sorgen die koreanischstämmige Amerikanerin Sam Scott und ihre Küchenhelfer dafür, dass jeder Gefangene 4500 bis 5000 Kalorien am Tag bekommt. Sechs verschiedene Gerichte stehen bei den Mahlzeiten zur Auswahl. 3,1 Mio. $ kostet die Zubereitung im Jahr, denn die muslimischen Häftlinge essen nur Fleisch, das "halal" geschlachtet wurde, den islamischen Speisevorschriften konform. Und das ist teuer.
Stolz auf das Krankenhaus
Für die medizinische Versorgung ist der Leiter des Krankenhauses zuständig. Aus Sicherheitsgründen nennt er sich nur SMO - Senior Medical Officer. "Verzeihen Sie mir meine Begeisterung", sagt er. "Aber wir sind sehr stolz auf unser Krankenhaus." Die Gefangenen hätten es hier viel besser als in ihrer Heimat, verkündet ein Plakat. In Guantánamo komme ein Arzt auf 57 Häftlinge, in Afghanistan müssten sich 5300 Bewohner einen Arzt teilen, so die einfache Rechnung.
Die Ärzte sollen vor allem verhindern, dass sich die Gefangenen selbst schaden. 31 Hungerstreikende gibt es derzeit im Lager, 27 von ihnen werden mit gelben Schläuchen zwangsernährt. "Der Hungerstreik ist eine legitime Form des Protests", sagt der SMO. "Wir gewährleisten, dass das unter sicheren Umständen passiert."
Von sechs Todesfällen im Lager hatte nur einer eine natürliche Ursache. Vier Selbstmorde sind zu verzeichnen, ein Fall ist unklar: Derzeit wird untersucht, ob der Tod des Jemeniten Muhammad Ahmad Abdallah Salih Anfang Juni ebenfalls ein Selbstmord war. "Wenn jemand entschlossen ist, sich umzubringen, dann findet er einen Weg", sagt der Psychologe, der die Behavioral Health Unit leitet und sich Leutnant "El Dorado" nennt. Als suizidgefährdet eingestufte Häftlinge sind auf seiner Station, der Jemenite zählte dazu.
Keine Fehler mehr
Fehler dürfen nicht mehr passieren. "Uns wirft man alles vor", sagt ein Mann, den sie hier "Zak" rufen. "Deshalb sind wir extrem vorsichtig." Der Berater für kulturelle Angelegenheiten, der Arabisch als Muttersprache spricht, stellt sich als gebürtiger Jordanier vor. Er erklärt den amerikanischen GIs die islamischen Sitten und Gebräuche. Dass ein Wärter auf dem Koran herumtrampelt, wie es in der Anfangszeit passiert war, erscheint heute unvorstellbar.
Man respektiert sich, so gut es geht. Hazael Orengo, der auf Turm 13 Wachdienst schiebt, hat Anweisung, still zu sein, wenn die Häftlinge von Camp 4 sich vor Sonnenaufgang zum Gebet verneigen. Der junge Mann aus Puerto Rico nutzt die langen Stunden zwischen Mitternacht und Morgensonne zum Zeichnen, das baue den Stress ab. Zu seiner Ausstattung gehören ein Funkgerät, eine Trillerpfeife und ein Gewehr, mit dem er nur im Notfall schießen darf - und nur auf Arme und Beine. "Manchmal bekomme ich Heimweh und frage mich, auf was ich mich hier eingelassen habe", sagt er. Er freue sich auf den nächsten Winter, wenn er diesen bizarren Ort endlich verlassen und zu Frau und Kind zurückkehren könne.
Die Nachtschicht geht zu Ende
Bis dahin wird ihn der Ruf des Imams begleiten, der morgens um 5 Uhr im grellen Scheinwerferlicht des Gefängnishofs steht und mit melodischer Stimme aus dem Koran rezitiert. Hinter ihm haben sich die Betenden in einer Reihe aufgestellt. Sie tragen weiße Häftlingskleidung, einige haben Gebetsmützen aufgesetzt. Sie verbeugen sich im Stehen und in der Hocke in Richtung Mekka und fallen dann auf ihren Gebetsmatten auf die Knie. Wächter Orengo liebt diesen Moment: "Wenn sie beten, weiß ich, dass meine Nachtschicht bald zu Ende ist."