Vom Abbau des Sozialstaates kann in den USA keine Rede sein. Nicht etwa, weil die Staatskassen so gefüllt oder die Regierung so großzügig wäre. "Welcher Sozialstaat?" fragen Kritiker im Hinblick auf die USA sarkastisch. Unter den hoch entwickelten Industrieländern dürfte das mächtigste Land der Welt bei den Sozialleistungen ein Schlusslicht bilden. "Im Vergleich mit westeuropäischen Standards ist das soziale Netz in den USA weitmaschig", formuliert die Bundeszentrale für Politische Bildung.
Nach einer Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) könnte die Euro-Zone langfristig zehn Prozent mehr Wirtschaftswachstum schaffen, wenn die Arbeitsmärkte nach dem Muster der USA dereguliert und die Konkurrenz verschärft würde. Eine Liberalisierung der Arbeitsmärkte würde die Arbeitslosigkeit um 3,5 Prozentpunkte senken. Für Arbeitnehmer bedeutete dies kaum noch Kündigungsschutz, wenig Arbeitslosengeld, keine garantierte Krankenversicherung - und im Durchschnitt nur rund zwölf Tage Urlaub im Jahr.
Rente beträgt nur zirka vierzig Prozent des letzten Bruttoeinkommens
Die Rentenbeiträge aus dem Arbeitslohn liegen zwar nur bei knapp 13 Prozent - je zur Hälfte von Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu bezahlen -, dafür ist die Rente am Ende auch dürftig. Mit rund 40 Prozent des letzten Bruttoeinkommens kommen die wenigsten im Alter aus. Wer es sich leisten kann, spart deshalb in eine private Altersvorsorge oder Betriebsrente. Millionen Rentner müssen ihre Bezüge jedoch mit Hilfsjobs in Supermärkten und Fabriken aufbessern.
Wenn die geburtenstarken Jahrgänge in zehn, fünzehn Jahren in Rente gehen, könnte es aber selbst mit der schmalen Rente eng werden. Präsident George W. Bush macht sich deshalb dafür stark, einen Teil der gesetzlich festgelegten Beiträge in private Konten zu sparen. Das erhöhe die Rendite. Das Vorhaben, mit dem Bush bei Amtsantritt vor zwei Jahren vorpreschte, ist angesichts des Terrorkriegs und der schlechten Konjunkturlage in den Hintergrund getreten.
Der Bürger steht in der Pflicht
Ein Wohlfahrtstaat mit Fürsorgeprogrammen steht in den USA im krassen Gegensatz zur tief verwurzelten protestantischen Arbeitsethik. Die Fürsorgefunktion des Staates steht nicht im Vordergrund, sondern vielmehr die Pflicht des Bürgers, für den Empfang von steuerfinanzierten Hilfen Gegenleistungen zu erbringen.
So erhalten Arbeitslose nur sechs Monate Arbeitslosengeld. Das beträgt höchstens die Hälfte des Bruttolohns, bis zu einer je nach Bundesstaat unterschiedlichen Höchstgrenze. In Maryland liegt die bei 310 Dollar pro Woche. Sozialhilfe gibt es seit der großen Reform 1996 nur noch für maximal fünf Jahre und nur zwei Jahre in Folge. Die Bundesstaaten sorgen für Weiterbildungsmöglichkeiten und übernehmen Kosten für die Kinderbetreuung, die Empfänger werden in Arbeitsprogrammen untergebracht. So werden sie in den Arbeitsmarkt integriert und sollen nach zwei Jahren auf eigenen Füßen stehen.
Schwache Konjunktur zwingt Regierung zu Zugeständnissen
In den 90er Jahre war das Programm sehr erfolgreich. In der boomenden Wirtschaft war Arbeit leicht zu finden. Seit dem Konjunktureinbruch sieht es anders aus. Viele der mit staatlicher Hilfe Vermittelten landeten schnell wieder auf der Straße. Ihnen bleibt nur eins: der Gang zur Suppenküche und Hilfsorganisationen.
Die schwache Konjunktur hat die Regierung zu Zugeständnissen veranlasst: Das Arbeitslosengeld wurde vorübergehend um ein paar Wochen verlängert. Auch bei der Krankenversicherung bahnt sich Besserung an: Präsident George W. Bush ist dafür, dass die staatliche Krankenversicherung für über 65-Jährige (Medicare) auch für Medikamente aufkommt. Die Entscheidung im Kongress steht noch aus.
Viele Amerikaner sind nicht krankenversichert
Außer Medicare gibt es eine staatliche Versicherung für Menschen unter der Armutsgrenze (Medicaid). Alle anderen müssen sich privat versichern. Wer Glück hat, findet einen Arbeitgeber, der sich an den Kosten beteiligt. Viele große Unternehmen, die überwiegend ungelernte Arbeiter beschäftigen, tun das nicht. Gerade bei diesen Arbeitnehmern reicht der Lohn aber nur für das Allernötigste. Rund 58 Millionen Menschen, ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung, war nach einer neuen Studie im Jahr 1998 zeitweise unversichert. Permanent hatten zwischen 21 und 31 Millionen Menschen keine Krankenversicherung.
"Selbst für diejenigen Bevölkerungsgruppen, die öffentliche Sozialleistungen erhalten, sind die Leistungen allein weder bedarfsdeckend noch existenzsichernd", sagt der Soziologe Holger Backhaus-Maul.