Ein trüber Donnerstagmorgen, Mitte April in New York. In Schlafanzügen und Bademänteln taumeln schlaftrunkene Menschen in eine Hotelhalle. Feuer! "Es kam aus dem Boden", erzählt ein Mann erschrocken. "Ein paar Minuten später kamen sie, um uns in Sicherheit zu bringen." Nun steht er in aller Herrgottsfrühe mit Dutzenden weiterer Menschen vor dem Häuserblock in der 39. Straße. Feuerwehrleute versuchen den Brand zu bändigen. Unter der Erde waren Leitungen verschmort und hatten Gase in einem Kabelschacht nahe dem Bahnhof Grand Central zur Explosion gebracht. Ein Gutes hatte der Brand immerhin: Der Versorger ConEdison entdeckte so in der Nähe ein Leck in einer Erdgasleitung.
Wenige Wochen später, Mitte Mai, Midtown Manhattan. Morgens um 8.09 Uhr, zur Hauptverkehrzeit, geht eine Alarmmeldung bei der New Yorker Feuerwehr ein. Ein Sturzbach ergießt sich auf die Avenue of the Americas. Eine 85 Jahre alte Hauptwasserleitung ist gebrochen. Die Verkehrsader wird komplett gesperrt. Die Feuerwehr evakuiert Anwohner. Die Befürchtung der Behörden: Das Wasser ist mit Asbest verseucht. Geschäfte werden geflutet, darunter der Schmuckladen "Fortune" an der Fifth Avenue.
Und nun seit zwei Wochen die große Flut: An 23 Stellen brachen die Deiche entlang des Mississippi. Schlammbraunes Wasser ergießt sich über Farmland, sucht sich seinen Weg durch Kleinstädte und unterspült Autobahnen. 24 Menschen kamen bislang in den Fluten ums Leben, die Sachschäden gehen in die Milliarden. Die Preise für Getreide und Fleisch sind geradezu explodiert, schließlich gilt die Region als Speisekammer Amerikas. Ingenieure, die für den Erhalt der Deiche zuständig sind, fordern seit Jahren, die veralteten Bauwerke zu erneuern und Schutzmauern zu errichten. Weitere 48 Dämme seien akut gefährdet. Aber nichts passierte. Auch Präsident George W. Bush, als Mutmacher in der Region unterwegs, spendet alles: Trost, Verständnis, warme Worte. Aber Zusagen für Geld und Erneuerungen gibt es von ihm keine.
Apokalypsen, wie sonst nur in Hollywood
Alle paar Wochen dringen verstörende Nachrichten aus den USA. Es sind kleine Apokalypsen, die sonst nur Hollywood inszeniert. Was ist das für ein Land, das mit Hightech-Revolutionen die Welt erobert, das so viele großartige Bauten aus der neuen Erde stampft - das zugleich aber abgewirtschaftet und marode ist? Ein Land, von dem so viel Fortschritt ausgeht und das in seiner Substanz so rückständig scheint?
Es ist nicht mehr zu übersehen: Die Infrastruktur in den USA ist in die Jahre gekommen. Die großen Investitionen in die Lebensadern der amerikanischen Industriegesellschaft liegen Jahrzehnte zurück. Viele der gewaltigen Netze und Bauwerke sind kaputt, ausgezehrt und gehören abgerissen oder ersetzt. Unglaubliche 1600 Milliarden Dollar müssten in den kommenden fünf Jahren ausgegeben werden, um sämtliche Systeme in Schuss zu bringen, hat der Verband der Bauingenieure ausgerechnet.
Öffentliche Sicherheit bedroht
"Wir stehen vor einer Krise", warnt Verbandsdirektor Patrick Natale. "Der Zustand unserer Infrastruktur ist eine Bedrohung für die öffentliche Sicherheit und die Wirtschaft des Landes." Eine nationale Kommission aus Verkehrspolitikern und Managern kam im Januar zu einem ähnlichen Schluss: "Das Transportssystem ist an einem Scheideweg. Das künftige Wohlergehen und die ökonomische Führerschaft unserer Nation stehen auf dem Spiel." Das Fazit: Die Politik muss jetzt handeln.
Doch im Wahlkampf zeigt nur eine Partei den Willen, dies zu tun: die Demokraten mit Barack Obama. Sein Gegner John McCain hält nichts von großen staatlichen Investitionsprogrammen, für ihn sind sie eine Verschwendung von Steuergeldern. Seine Tirade gegen eine 320 Millionen Dollar teure "Brücke ins Nirgendwo" fehlt in keiner Wahlkampfrede. Die Brücke sollte eine Insel mit 50 Einwohnern in Alaska mit dem Festland verbinden. Das Projekt wurde in letzter Sekunde gestoppt.
Obama will 60 Milliarden investieren
Barack Obama dagegen fordert einen staatlichen Investitionsfonds, ausgestattet mit 60 Milliarden Dollar. Und er lehnt McCains Idee ab, Autofahrern wegen der hohen Spritpreise die Benzinsteuer zu erlassen. Die Steuer fließt in den Aufbau und Erhalt der Bundesstraßen. Fällt sie weg, so rechnet der Verkehrsausschuss des Repräsentantenhauses vor, fehlen jeden Monat drei Milliarden Dollar.
Nicht nur die Highways, fast alle Straßen, ob groß oder klein, befinden sich in einem erbärmlichen Zustand. Selbst in Detroit, der Geburtsstadt der US-Automobilindustrie, verwandelt sich die Fahrt zum Einkaufen in einen Schlaglochtanz. Jeden Morgen und jeden Abend stauen sich die Pendler vor Baustellen, auf denen manchmal monatelang nicht gearbeitet wird.
Die Universität Texas kommt zu dem Schluss, dass US-Autofahrer Jahr für Jahr 4,2 Milliarden Stunden in Staus verbringen und dabei elf Milliarden Liter Benzin verschwenden. Aber sie haben kaum Alternativen. Nicht nur in Detroit gibt es so gut wie keinen öffentlichen Personennahverkehr. Und fährt in einer Stadt mal eine U-Bahn, dann ist sie eher ein Quell bunter Nachrichten als ein verlässliches Verkehrssystem. So sollte, wer in der New Yorker U-Bahn unterwegs ist, auf dem Weg zum Bahnsteig lieber die Treppe nehmen. Die Aufzüge sind mehr Falle als Hilfe. In zwei von drei Fahrstühlen sind im vergangenen Jahr Passagiere steckengeblieben, jede sechste Anlage war länger als einen Monat außer Betrieb.
Alles verrottet, es ist eine Schande - das ist ein Satz, den man oft in den Staaten hört. Wissenschaftler untermauern diese Stammtischmeinung: Vor 50 Jahren gaben die USA drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Infrastruktur aus, seit zwei Jahrzehnten sind es nur noch zwei Prozent. Zum Vergleich: China lässt sich den Aufbau von Transport-, Strom- und Datennetzen neun Prozent seines Bruttoinlandprodukts kosten, Indien fünf Prozent.
Die USA tun zu wenig
"Die USA investieren von allen Industrieländern am wenigsten in den Erhalt ihrer Infrastruktur", sagt Erik Sofge, Experte beim Ingenieurmagazin "Popular Mechanics". Die US-Regierung habe in Zeiten hohen Wachstums nach der Jahrtausendwende die Ausgaben nicht erhöht, wie es angebracht gewesen wäre - anders als die Japaner, die den Boom der 80er Jahre für die Modernisierung ihrer Straßen nutzten und für die schwachen 90er Jahre gewappnet waren. "Infrastruktur ist langweilig, bevor sie zusammenbricht", sagt Sofge. Nun, wenn alles zusammenbricht, steht die Wirtschaft am Rande einer Rezession, die Kassen sind leer.
Längst haben sich prominente Manager eingeschaltet, warnen vor den wirtschaftlichen Folgen. "Wenn wir nichts tun, könnten wir beim Welthandel außen vor bleiben", sagt Scott Davis, Chef des Paketdienstes UPS. Die Berater von Deloitte Research haben errechnet, dass die Zuwachsraten bei der Arbeitsproduktivität schrumpfen - zur Hälfte sei die vernachlässigte Infrastruktur daran schuld.