Versuch einer Prognose Wo China in 60 Jahren steht

Die Kunst des Wahrsagens hat in China Tradition. Zum 60. Geburtstag der Volksrepublik hat stern-Korrespondent Janis Vougioukas in Shanghai einen Wahrsager besucht und gefragt, wie das Land in 60 Jahren aussehen wird.

Nicht immer ist die Zukunft deutlich zu erkennen. Das Büro von Gu Changsheng liegt im 5. Stock, gleich neben dem Lastenaufzug in einem heruntergekommenen Betonkasten auf dem Campus der Tongji-Universität in Shanghai. An den Wänden hängen Kaligrafien. Es gibt zwar Schreibtische, aber weder Computer noch Telefone - die Kunst des Wahrsagens hat alle Innovationen und Modernisierungen unbeschadet überstanden.

Gu ist ein dünn und zierlich. Er ist 68 Jahre alt, trägt ein weißes Seidengewand, er lächelt oft.

Junge Chinesen entdecken die alten Werte

Die Kunst des Wahrsagens hat in China eine lange Tradition. Früher saßen die Wahrsager in Shanghai an jeder Straßenecke. Dann kamen die Kommunisten und verboten alles Mystische. Heute entdecken viele junge Chinesen die alten Werten und Gebräuche wieder. Doch die Zahl der Wahrsager ist überschaubar geblieben: Gerade ein mal zehn angesehene Wahrsager gibt es heute noch in Shanghai.

Gu gehört zu den berühmtesten der Stadt. "Ich frage meine Besucher nach ihrem Geburtsort und der möglichst genauen Geburtszeit, dann kann ich ihr Schicksaal erkennen: Ich errechne den Einfluss der Lebensenergien und aller wichtigen Kräfte", sagt Gu.

Ein Versuch: "Es geht nicht um eine Person. Der Geburtsort ist Peking, der Zeitpunkt kurz vor drei am Nachmittag des 1. Oktober 1949." Herr Gu stutzt.

Um 14.55 Uhr trat Mao vor die jubelnde Menge

Es war 14.55 Uhr als Mao die Treppe zum Tor des Himmlischen Friedens hinaufstieg, vor ihm ein Meer jubelnder Menschen. Und er rief die Worte: "Das chinesische Volk ist aufgestanden!" Die Gründung der Volksrepublik China vor 60 Jahren war wohl einer der wichtigsten Schlüsselmomente in der Geschichte Asiens. Kein anderes Land hat sich in den vergangenen Jahren so gewaltig verändert. Und vielleicht ist China auch das Land, in dem gerade die Zukunft aller Menschen neu geschrieben wird.

"Herr Gu, wie sieht Chinas Zukunft aus? Wie wird sich ihr Land in den nächsten 60 Jahren verändern?

Der Wahrsager schweigt. Es heißt, dass selbst Revolutionsführer Mao Tse Tung bei Wahrsagern um Rat gebeten habe. Heute lassen Firmenchefs ihre Geschäftsstrategie von Wahrsagern und Fengshui-Meistern untersuchen. Doch Herr Gu sagt: "Ich bin nur ein kleiner Mensch. Für uns Normalbürger gilt die Regel, dass man sich nicht in die Politik einmischen sollte." Mehr will er lieber nicht sagen.

Festakt des neuen chinesischen Selbstbewusstseins

Das Gründungsjubiläum ist ein Festakt des neuen chinesischen Selbstbewusstseins. Eine Parade der militärischen Stärke, vorbei an den Hochhäusern und Flagship-Boutiquen in der boomenden Hauptstadt Peking.

Es gibt viele Prognosen über die Zukunft Chinas. Und wer versucht, eine Antwort auf die zukünftige Entwicklung der Volksrepublik China in den Zahlen zu finden, bekommt zunächst einen Schrecken. 1952 lagen die Währungsreserven des jungen kommunistischen Landes bei 139 Millionen Dollar. Inzwischen sind sie um das 14.000-fache gestiegen; Ende vergangenen Jahres verwaltete die Pekinger Regierung Fremdwährungsersparnisse in Höhe von 1,95 Billionen Dollar. Werden Chinas Ersparnisse weiter so schnell steigen? Die Lebenserwartung hat sich verdoppelt, von 36,5 auf 73,4 Jahre. Auch die Wirtschaftsleistung stieg rasant. Kurz nach der Revolution erwirtschafteten die Chinesen im Jahres- und Pro-Kopf-Durchschnitt ein Bruttoinlandsprodukt von gerade einmal 51 Dollar. Inzwischen sind es 2770 Dollar. Selbst die pessimistischsten Experten gehen davon aus, dass China die Vereinigten Staaten in wenigen Jahren als größte Wirtschaftsnation der Welt ablösen wird.

Tatsächlich verdient die chinesische Regierung große Anerkennung für Ihre Leistung. Kein anderes Entwicklungsland hat es bisher aus eigener Kraft geschafft, sich aus der Armut zu befreien.

China wird in 60 Jahren eine moderne Gesellschaft sein

Doch wo steht China in 60 Jahren? Es gibt viele Prognosen über die Zukunft Chinas. Die großen Beratungsfirmen entwerfen regelmäßig neue Bedrohungsszenarien über den Niedergang des Westens und die Neuordnung der Welt. Und es geht dabei nicht nur um die Wirtschaft. "China wird in 60 Jahren eine moderne Gesellschaft mit einer breiten Mittelschicht sein und einer modernen Gesellschaft", sagt Wang Zhengxu vom China-Institut der Universität von Nottingham. "Und es wird Wahlen geben, China wird sich ganz zwangsläufig demokratisieren", sagt Wang.

Herr Gu, der Wahrsager, traut sich keine Prognose zu. Tatsächlich stammen sämtliche Prognosen zur Entwicklung Chinas von westlichen Experten. Die Chinesen kennen ihre Probleme besser, auch wenn sie nicht gerne darüber sprechen. Die Umweltzerstörung, die wachsende soziale Ungleichheit, die Ein-Kind-Politik und die dadurch entstehende Überalterung der Gesellschaft können Chinas Aufstieg beenden. Das alles sagt Herr Gu nicht. Aber er: Vielleicht brauch China noch weit länger als 60 Jahre, um endlich die mächtigste Nation der Welt zu werden.

Janis Vougioukas, Shanghai