"Hat sonst noch jemand Gänsehaut? Danke Polen, dass Du uns die Hoffnung zurückgibst", schreibt die ungarische Europaabgeordnete Katalin Cseh auf X, früher Twitter. Hoffnung ist tatsächlich das Gefühl, das sich in Brüssel einen Tag nach den Wahlen in Polen breitmacht.
Hoffnung auf eine Annäherung zwischen der EU und Warschau. Hoffnung "auf ein Ende der Lügen und Hassreden gegen die Nachbarn in der EU und der Verachtung der demokratischen Mitbewerber", drückt es Michael Gahler (CDU) auf X aus.
Hoffnung aber auch, weil die rechten Parteien zumindest einmal nicht gestärkt aus einer Wahl hervorgehen. "Der Rechtsruck in Europa ist nicht unausweichlich. Das ist ein sehr positives Signal", freut sich denn auch der Grünen-Europaabgeordnete Daniel Freund im Gespräch mit stern.
PiS verliert die absolute Mehrheit
Zwar bleibt die nationalkonservative PiS von Mateusz Morawiecki laut Prognosen weiterhin die stärkste Kraft, doch sie verliert mit voraussichtlich 36,1 Prozent ihre absolute Mehrheit. "Die Herrschaft der PiS ist vorbei", kommentierte bereits der ehemalige Ministerpräsident und voraussichtliche Wahlgewinner Donald Tusk.
Dessen liberal-konservative Bürgerunion kommt auf rund 31 Prozent der Stimmen. Zusammen mit der Partei "Dritter Weg" und dem Linksbündnis "Lewika" könnte Tusk die Geschicke des Landes künftig lenken – und die Beziehungen zwischen Warschau und Brüssel reparieren. So lautete jedenfalls das Wahlkampfversprechen des ehemaligen EU-Ratspräsidenten Tusk, das zerrüttete Verhältnis zur EU zu verbessern.
Denn die Beziehungen zwischen dem Oststaat und der Europäischen Union liegen dank Morawieckis autoritärem Führungsstil regelrecht in Scherben: Die umstrittene Justizreform, Attacken auf demokratische Grundprinzipien, Korruption, die Beschneidung der Presse- und Meinungsfreiheit, Hetze gegen Migranten und die LGBTQ-Community, die Einschränkung der Selbstbestimmung von Frauen ... Die Liste der Probleme, um die sich die künftige Regierung kümmern muss, ist lang.
Erst im Juli stellte die EU Polen in ihrem Bericht zur Rechtsstaatlichkeit einmal mehr ein negatives Zeugnis aus. "Kein Fortschritt, kein Fortschritt, kein Fortschritt", liest man dort. Weder beim Kampf gegen "Korruption auf höchster Ebene", noch bei der "Gewährleistung unabhängiger und wirksamer Ermittlungen und Strafverfolgungen". Auch nicht bei der "fairen, transparenten und nicht-diskriminierenden" Vergabe von Medienlizenzen.
Es geht um viel Geld für Polen
Bei Tusks Versprechen geht aber nicht nur um ein besseres Ansehen Polens innerhalb der europäischen Staatengemeinschaft, sondern vor allem um viel Geld: Rund 110 Milliarden Euro aus dem EU-Haushalt, insbesondere dem Corona-Aufbaufonds und dem Kohäsionsfonds, hat die Union im Streit um die polnische Rechtsstaatlichkeit eingefroren.
"Eine Regierung unter Donald Tusk wird sicherlich die Rechtsstaatsverstöße reparieren", prophezeit Grünen-Politiker Freund, der sich im Brüsseler Parlament mit diesen Fragen beschäftigt. Tusk müsse die Reformen schnell in Angriff nehmen, sagt er. Und er ist sich sicher: Sobald erste kleinere Meilensteine erreicht sind, könnte die EU Teile der Gelder freigeben.
Tusk, der aus derselben Parteifamilie kommt wie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, weiß sicherlich, wie er die Gemüter beruhigen und eine schnelle Freigabe wichtiger EU-Gelder erreichen kann.
"Die Chancen, die sich daraus für eine Regierung unter der möglichen Führung von Donald Tusk ergeben, sind ermutigend – nicht nur für Polen, sondern für die gesamte Europäische Union", freut sich auch David McAllister (CDU), Mitglied im EU-Parlament, im Gespräch mit stern.
"Donald Tusk ist ein erfahrener Europäer"
Tusk ist in Brüssel kein Unbekannter. Als ehemaliger Präsident des Europäischen Rates kennt er die Vorgänge und Gepflogenheiten der Institutionen nur zu gut. Und er kennt die meisten Staatschefs persönlich. "Donald Tusk ist ein erfahrener Europäer und ein vertrauenswürdiger Partner. Er wird die künftigen Beziehungen seines Landes zur EU und anderen europäischen Hauptstädten konstruktiver und konsensorientierter angehen als die amtierende polnische Regierung", sagt McAllister.
Tatsächlich ist zu erwarten, dass sich mit ihm an der Spitze Polens die Dynamik im Europäischen Rat maßgeblich verändern wird. Tusk weiß, wie man dort verhandelt, wie man Bündnisse schmiedet und Mehrheiten erreicht. Sicher ist: Unter ihm sitzt Polen wieder als konstruktiver Verhandlungspartner am Tisch – und nicht schmollend in der Ecke.
Das macht besonders mit Blick auf 2025 Hoffnung, dann übernimmt Polen für sechs Monate die Ratspräsidentschaft.
Zuletzt hatte die polnische Regierung im Rat systematisch alle großen Themen blockiert. Ukraine-Hilfen, Getreideeinfuhr, EU-Haushalt, Besteuerung von Konzernen, Sanktionen gegen Russland. Überall hatte Morawiecki zuletzt sein Veto eingelegt und mit seiner destruktiven Haltung für eine Pattsituation nach der anderen gesorgt.
Schätzungsweise eine Million Polen bei Oppositionsdemo gegen die Regierung

Auch wenn Donald Tusk sicherlich einen konstruktiven Politikstil wählen wird, sollte man sich auch unter ihm nicht in allen Politikfeldern eine 180-Grad-Wendung erhoffen. In der Migrationsfrage etwa dürfte auch ein Tusk eine konservative bis rechtskonservative Haltung einnehmen.
Dennoch: Ein polnischer Machtwechsel würde eine Veränderung bringen – und besonders Victor Orbán schaden. Denn fast in allen Pattsituationen machten Ungarn und Polen gegen die EU gemeinsame Sache. Fällt der bevölkerungstechnisch einflussreiche Partner Polen weg, so steht Orbán im Rat zunehmend allein da. Das Stimmgewicht wird sich ändern; der Druck auf Orbán steigen.
Doch bei aller Freude: Bevor Donald Tusk im Rat schlichten kann, muss er erst einmal schaffen, eine Regierung zu bilden und ein Koalitionsprogramm auf die Beine zu stellen. Bei sechs Parteien, von konservativ über liberal bis grün, wird das sicher kein leichtes Unterfangen.
Gleichzeitig wird Polens Präsident Andrzej Duda, der wie der scheidende Ministerpräsident Morawiecki der PiS angehört, noch rund eineinhalb Jahre an der Macht sein. Es bleibt zu hoffen, dass er, sollte es zu einem Machtwechsel an der Spitze Polens kommen, seine Unterschrift unter die nötigen Reformen einer progressiveren Regierung unter Donald Tusk setzen wird.