In den letzten Tagen vor der Wahl war Oppositionsführer Donald Tusk so gut wie überall. Am Montag diskutierte er in der Wahldebatte im TVP, dem Propaganda-Sender der PiS-Regierung. Am Dienstag traf er in Lodz auf Frauen, um ihnen mehr Gleichberechtigung nach seinem Wahlsieg zu versprechen. Am Mittwoch fuhr er nach Elk im Nordosten, um über Polens Sicherheit und Rücktritte der Militärführung zu reden. Am Donnerstag trat er vor die Wähler in Kattowitz. Jede Stimme zählt, noch nie seit dem Zusammenbruch des Kommunismus war ein Wahlkampf in Polen so hart und intensiv umkämpft.
Die Verrohung der politischen Debatte hat ihren Tiefpunkt erreicht. Hass und Hetze sind allgegenwärtig, allen voran auf der Seite der Regierungspartei, die ihre ganze Kampagne darauf aufgebaut hat, Angst vor der Rückkehr der "deutschen" Tusk-Regierung zu schüren. Die Grenzen von Moral und Anstand wurden längst überschritten.
Kaczynski als Möchte-gern-Diktator
Bei der Wahl am heutigen Sonntag geht es – und das ist keine Übertreibung – um die Zukunft der Demokratie und die EU-Zugehörigkeit Polens. Nur 34 Jahre nach der Wende balanciert das Land am Rande des Abgrunds: Mit dem dritten Mandat für die PiS seit 2015 könnte Polen in den Autoritarismus abrutschen – mit Kaczynski als Möchte-gern-Diktator. Sein Herrschaftsmodel unterscheidet sich kaum von dem des alten Sowjetsystems: Kaczynski will die Führungsrolle seiner Partei institutionalisieren, alle Oppositionsbewegungen schwächen oder ausschalten. Der Staat gehört nach seinem Verständnis den Herrschenden und der Wahlakt ist kaum mehr als eine formelle Bestätigung, um die Regierung glaubwürdig zu machen. Anders gesagt: Die Wahlen sind nur dann gut, wenn die PiS gewinnt.
Für Kaczynski sind alle Mittel recht, um an der Macht zu bleiben. Er missbraucht alle staatlichen Institutionen, die er zuvor parteipolitisch umgebaut hat, um sich Vorteile im Wahlkampf zu verschaffen. Alle wichtigen Kontrollorgane der Wirtschaft, wie die Zentralbank, Börsenaufsicht, Antimonopol- und Regulierungsbehörden, sowie alle Staatsunternehmen, die er mit loyalen PiS-Anhängern besetzt hat, machen nun Wahlkampf für die Regierung. Auch der Leiter des Staatlichen Wahlamtes und alle Wahlkommissare wurden von der PiS nominiert. So versteht Kaczynski die Demokratie.
Um das Machtmonopol seiner Partei auf Jahre zu sichern, könnte Kaczynski nach seinem dritten Wahlsieg die unabhängigen Medien zum Schweigen bringen, die unabhängigen Richter ausschalten und die Lokalverwaltung schwächen. Kaczynski hat nie einen Hehl daraus gemacht, dass er die unabhängigen Medien unter seine Kontrolle bringen will. Ihre Kritik hält er schlicht und einfach für Landesverrat, denn er glaubt an die Unfehlbarkeit seiner selbst – und seiner Partei.
Schon vor zwei Jahren gab es Versuche, die Aktienmehrheit des von dem US-Konzern Discovery kontrollierten Senders TVN zu übernehmen. Doch nach einer heftigen Reaktion aus Washington war die PiS zum Rückzug gezwungen – Präsident Andrzej Duda blockierte das gegen TVN gerichtete Gesetz. Anfang 2023 versuchte die Regierung bei den kritischen Internetmedien Onet und Wirtualna Polska eigene Polit-Kommissare zu installieren, die dort die Position der Regierung vertreten sollten. Die Chefredakteure lehnten das kategorisch ab - wie auch die gut dotierten Kaufangebote der mit der Regierung befreundeten Geschäftsleute. Erfolgreicher war der staatliche Mineralölkonzern Orlen: Der hatte schon 2020 die polnischen Lokalzeitungen von der deutsche Passauer Neuen Presse übernommen und sie in eine Propaganda-Maschine der PiS umgewandelt.
Es gibt wenig Zweifel daran, das die PiS während ihrer dritten Amtszeit an der Regierung alles daran setzen würden, endgültig die Unabhängigkeit der Gerichte zu untergraben. Justizminister Zbigniew Ziobro, der gleichzeitig auch Generalstaatsanwalt ist, hat es immer abgelehnt, den Aufforderungen der EU nach einer Reform des Obersten Gerichts nachzukommen und die Rechtsstaatlichkeit wieder herzustellen. Die 35 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds, die Brüssel wegen des Streits einbehielt, hat die PiS-Regierung längst abgeschrieben. Sie genießt stattdessen ihre Straffreiheit: Ziobro blockiert schon jetzt Ermittlungen, die sich gegen Parteikollegen und Anhänger richten. Seitdem das Verfassungsgericht ausgehöhlt wurde, müssen keine Gesetze überprüft werden, ob sie gegen die Verfassung verstoßen. Nun geht es darum, die verbliebenen gesetzestreuen Richter in allen Instanzen einzuschüchtern – und gegen loyale PiS-Befehlsempfänger auszutauschen.
Getreide, Migranten: die Streitthemen mit Brüssel
Der Streit mit der EU ist im Fall einer Fortsetzung der PiS-Regierung eingepreist, denn sie ist bereit, nur diejenigen Entscheidungen Brüssels umzusetzen, die dem PiS-Vorsitzenden in sein Konzept passen. Polen blockiert einseitig die Getreideeinfuhren aus der Ukraine, obwohl die EU das europäische Embargo auslaufen ließ. Dabei ist Brüssel für die Handelspolitik des Blocks verantwortlich. Warschau weigert sich, Migranten aufzunehmen, die über das Mittelmeer nach Europa gelangten - und lehnt auch die anfallenden Zahlungen ab. Auch das "Fit for 55"-Programm, das eine Reduzierung der Treibhausgasemissionen um 55 Prozent bis 2030 sichern soll, lehnt Warschau ab.
Kaczynski belächelte im Wahlkampf das EU-Verbot von Verbrennungsmotoren und forderte mehr Zeit, um die Unabhängigkeit von fossilen Brennstoffen zu erreichen. Er empörte sich über Empfehlungen von verschiedenen internationalen Gremien, den Fleischkonsum zu reduzieren: Die PiS werde den Polen nicht vorschreiben, wieviel Fleisch sie pro Jahr essen dürften, polemisierte er. Klimaziele sind mit Kaczynski kaum zu erreichen.
Auf dem ersten Blick wirkt Polen manchmal wie ein Land im Aufschwung. Die Städte blühen auf, Bürotürme und Apartmenthäuser schießen in den Himmel. In Restaurants und Cafés sitzen junge Leute, die für ausländische Firmen arbeiten und für Wochenendtrips nach Paris oder Barcelona fliegen. Doch im achten Jahr der PiS-Herrschaft ziehen Wolken auf – zum ersten Mal seit 32 Jahren stagniert die Wirtschaft, die Inflation ist zweistellig, die Investitionsquote fällt zurück. Statt mit strenger Finanzdisziplin die Inflation zu bekämpfen, erhöht die Regierung aber die Sozialleistungen und verteilt milliardenschwere Wahlgeschenke: Sie schafft Autobahngebühren ab, führt kostenlose Medikamente für Kinder und Senioren ein, zahlt die 13. und 14. Monatsrente.
Unter dem Banner der Repolonisierung hat die PiS mehrere von ausländischen Investoren kontrollierte Banken und Konzerne wieder verstaatlicht, obwohl der Staat bekanntlich nicht der effizienteste Besitzer ist. Die PiS schuf damit Hunderte hochbezahlte Jobs für loyale Anhänger, deren Familienangehörige und Freunde. Doch darum allein geht es Kaczynski nicht: Er will strategische Wirtschaftssektoren kontrollieren, um sich mit deren Hilfe die politische Macht zu sichern. So wie jetzt: Er befahl die Energie, Gas- und Treibstoffpreise im Wahlkampf zu senken und manipuliert so die Stimmung der Wähler.
Wenn die EU die Schaffung neuer, vom Staat kontrollierten Monopole moniert, droht Warschau manchmal mit dem "Polexit". Polens früherer Außenminister Radoslaw Sikorski befürchtet, dass eine weitere Amtszeit der PiS sogar zum Austritt Polens aus dem Block führen könnte. "Sie bereiten schon die Öffentlichkeit darauf vor", klagt Sikorski. "Das ist ein Skandal!"
Und ein Spiel mit dem Feuer, den das Land verdankt auch dem EU-Beitritt sein Wachstum. Brüssel überwies Polen seit 2004 rund 160 Milliarden Euro netto. Die Straßen wurden davon modernisiert, die Städte renoviert. Die polnischen Bauern bekommen bis heute knapp drei Milliarden Euro an Subventionen pro Jahra, mehr als 200 Euro pro Hektar. Die EU genießt in Polen deswegen eine hohe Zustimmung. Kaczynski ist bereit, das alles aufzugeben, aus dem einen Grund – um seine Macht zu festigen.