Holocaust-Gedenkstunde "Sei ein Mensch!" Marcel Reifs Rede im Bundestag rührt zu Tränen

Marcel Reif spricht im Bundestag
"Sei ein Mensch! Sei ein Mensch!": Bewegende Appelle bei Holocaust-Gedenken im Bundestag
Sehen Sie im Video: "Sei ein Mensch! Sei ein Mensch!" – bewegende Appelle bei Holocaust-Gedenken im Bundestag.
 
 
 
 
STORY: Der Bundestag hat am Mittwoch in einer Gedenkstunde an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert. Dort sprach die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi. Die 91-Jährige wurde 1944 im Alter von 12 Jahren mit einem der letzten Transporte in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau gebracht. Szepesi wurde in Ungarn geboren und stammt aus einer jüdischen Familie, Mutter, Vater und Bruder wurden ermordet. O-Ton Eva Szepesi, Holocaust-Überlebende: "Es ist mir eine große Ehre, heute hier sprechen zu dürfen. Ich bin sehr glücklich, dass Ihr, meine lieben Töchter, Enkel und Urenkel, hier anwesend seid. Ihr gebt mir so viel Kraft und Liebe. Euch gibt es, weil ich vor 79 Jahren, am 27. Januar 1945, von der Roten Armee als 12-Jährige in Auschwitz Birkenau befreit wurde." ://: "Täglich denke ich an meine ermordete Familie, und ich frage mich oft, wieso habe ich überlebt? Es ist meine Lebensaufgabe geworden, für alle die zu sprechen, die nicht mehr sprechen können." ://: "Ich weiß, dass ich das Trauma der Shoah an meine Kinder, Enkel und Urenkel weitergegeben habe. Aber dass sie jetzt diese Existenzängste auch real erleben müssen, schmerzt mich sehr. Die Shoah begann nicht mit Auschwitz. Sie begann mit Worten. Sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft." ://: "Der 7. Oktober, der Tag, der für uns Juden auf der Welt alles veränderte. Mein Alltag hier in Deutschland ist seitdem geprägt von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen, von vermehrten antisemitischen Vorfällen, von Ängsten, von Gesprächen, die mit 'Ja, aber' beginnen, oder dem so lauten Schweigen aus der Mitte der Gesellschaft." ://: "Es erschreckt mich, dass rechtsextreme Parteien wiedergewählt werden. Sie dürfen nicht so stark werden, dass unsere Demokratie gefährdet wird. Wir sind kurz davor. Ich wünsche mir, dass die Gesellschaft nicht schweigt, wenn am Nebentisch antisemitische Äußerungen fallen. Wer schweigt, macht sich mitschuldig." Auch Marcel Reif, Sportjournalist und Sohn eines Holocaust-Überlebenden, ergriff bei der Zeremonie das Wort. O-Ton Marcel Reif, Sohn eines Holocaust-Überlebenden: "Aber mir wurde irgendwann beinahe schlagartig klar, dass mein Vater ja doch gesprochen hatte und mir all das gesagt und mitgegeben hatte, was ihm wichtig war, was er gerettet hatte. Als Essenz destilliert aus all dem Unmenschlichen der Häscher und Mörder, aus dem Übermenschlichen eines so mutigen Berthold Beitz, aus dem, was er selbst geleistet hatte mit dem kleinen Jungen, der seine eigene Menschlichkeit abgefragt hatte. Das alles hat er in einen kleinen Satz gepackt. Und ich erinnere mich täglich mehr daran, wie oft er mir diesen Satz geschenkt hat. Mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder auch als Tadel." ://: "Dann lasse ich Ihnen den kleinen und doch so großartigen, wundervollen Satz, den mein Vater Leon Reif gesagt hat. Dann lasse ich Ihnen diesen Satz hier: 'Sei ein Mensch, sei ein Mensch.'"
Der Bundestag erinnert an die Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz vor 79 Jahren und an die Millionen Opfer des Holocaust. Mit eindringlichen Worten spannen Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und Marcel Reif eine Brücke zu aktuellen Ereignissen.

Es war nur ein kleiner Satz, den Marcel Reif immer wieder von seinem Vater hörte – mal als Mahnung, mal als Warnung, als Ratschlag oder Tadel, wie der Sportjournalist am Mittwoch im Bundestag sagte. Nur drei kleine Worte: "Sei a Mensch – sei ein Mensch." Diesen "kleinen, großartigen, wundervollen Satz" seines Vaters Leon Reif wolle er gerne heute hier lassen, im höchsten deutschen Hause: "Sei. Ein. Mensch." Reif selbst stockte kurz. Einige im Plenarsaal wischten sich Tränen aus den Augen.

Es war das Gedenken zum 79. Jahrestag der Befreiung des NS-Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945, das Gedenken an die Millionen Opfer des Nationalsozialismus – 79 Jahre, "beinahe ein Menschenleben", wie Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu Beginn sagte. Doch schlugen alle Rednerinnen und Redner den Bogen ins Heute – zu den neuen Ängsten vieler Jüdinnen und Juden in Deutschland, zur Stärke rechter Parteien, zu den Massendemonstrationen für Demokratie und gegen Rechtsextremismus der vergangenen Tage. Die Verantwortung verjähre nicht, sagte Bas. ""Nie wieder" war, ist und bleibt eine Aufgabe für unsere gesamte Gesellschaft."

Marcel Reif entsetzt über Geschehnisse in Deutschland – und mit einem Funken Hoffnung

Dieses "Nie wieder" beschwor auch Marcel Reif, der als Sohn eines Holocaust-Überlebenden für die zweite Generation der Opfer sprach - vor allem darüber, dass sein Vater über das Grauen schwieg, um ihn, den Sohn, zu behüten. ""Nie wieder" ist mitnichten ein Appell", sagte Reif. ""Nie wieder" kann nur sein, darf nur sein - "nie wieder" muss sein - gelebte, unverrückbare Wirklichkeit." Vieles, was nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober in Deutschland geschehen sei, habe ihn entsetzt. "Aber was da zuletzt zu sehen war, die großen Demonstrationen der Aufrechten, das macht mir Hoffnung."

Ganz ähnlich beschrieb es die 91-jährige Eva Szepesi, eine Generation älter als Reif, selbst Überlebende des Holocaust: ""Nie wieder" ist jetzt!", rief auch sie ihren Zuhörern zu, darunter der Bundespräsident und die Bundesratspräsidentin, die Abgeordneten und Minister, aber auch viele junge Leute. 

Szepesi war im Alter von elf Jahren aus dem von den Nazis besetzten Ungarn zunächst in die Slowakei geflohen und von dort im November 1944 nach Auschwitz verschleppt worden. "Eiseskälte schlug mir entgegen", erinnerte sich Szepesi an den Moment, als die Waggontür des Zugs an der Rampe des Vernichtungslagers aufging. In einem Gebäude habe sie sich nackt ausziehen müssen. "Ich hatte die blaue Jacke an, die meine Mama für mich gestrickt hatte und brachte es nicht übers Herz sie auszuziehen", sagte Szepesi. Am Ende tat sie es doch. Als ihr die Zöpfe abgeschnitten wurden, starrte sie entsetzt auf ihre Haare. "Es war, als ob man mir den letzten Schutz genommen hätte."

Als wenige Wochen später die Sowjetarmee in die Nähe des deutschen Lagers kam, war Szepesi zu schwach für den von den Bewachern angeordneten Abmarsch – sie blieb zwischen Leichen verstorbener Frauen liegen. Dort fand sie ein sowjetischer Soldat und kühlte ihr mit geschmolzenem Schnee die Lippen. "Es war der 27. Januar 1945 und ich lebte", sagte Szepesi.

Dass sie in den 1950er Jahren mit ihrem Mann aus Ungarn ins Land der Täter zog, nach Frankfurt am Main, das sei einfach Schicksal gewesen."Ich kann nicht hassen, dazu habe ich als Kind zu viel Liebe bekommen", sagte die alte Frau. Sie denke täglich an ihre Familie und an die Frage, warum ausgerechnet sie überlebt habe."Es ist meine Lebensaufgabe geworden, für alle zu sprechen, die nicht mehr sprechen können."

Holocaust-Überlebende warnt vor Gefahren für die Demokratie

Doch habe sich seit dem 7. Oktober für Juden weltweit alles verändert – seit"dem tödlichsten Angriff auf Juden seit der Schoah".  Einige ihrer Auftritte in Schulen seien aus Sicherheitsgründen abgesagt worden, einige hätten unter Polizeischutz stattgefunden."Ich weiß, dass ich das Trauma der Schoah an meine Kinder, Enkel und Urenkel weitergegeben habe. Aber dass sie jetzt diese Existenzängste auch real erleben müssen, schmerzt mich sehr."

Es erschrecke sie, dass wieder rechtsextreme Parteien gewählt würden."Sie dürfen nicht so stark werden, dass unsere Demokratie gefährdet wird", warnte sie."Wir sind kurz davor." Noch fühle sie sich von der Demokratie geschützt. Doch sei sie besorgt über die Bereitschaft zu Gewalt, Judenhass und Menschenhass auf den Straßen."Es ist großartig, dass so viele Menschen in den letzten Wochen auf die Straße gegangen sind, um gegen Rechtsextreme zu demonstrieren." Nun wünsche sie sich auch lauten Widerspruch, wenn im Bekanntenkreis antisemitische oder menschenfeindliche Äußerungen fallen. Den Menschen, mit denen sie spreche, sage sie: «Ihr habt keine Schuld für das, was passiert ist. Aber ihr habt die Verantwortung für das, was jetzt passiert." Nie sei es ihr wichtiger gewesen, Zeugnis abzulegen."Denn nie wieder ist jetzt."

DPA
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