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25 Jahre Deutsche Einheit Ein Ehestreit zur Silberhochzeit

1990 gab es noch ein eigenes Ministerium für innerdeutsche Beziehungen. Eine glückliche Ehe ist es auch nach 25 Jahren nicht. Zehn Irrtümer haben die Beziehung zerrüttet - mindestens.
Eine Glosse von Holger Witzel

1. Dass es 1990 überhaupt eine Wiedervereinigung gab, ist wahrscheinlich das hartnäckigste Missverständnis von allen. Schon das Wort führt in die Irre: Was nach Sex, großer Liebe und romantischem Wiedersehen klingt, war rein juristisch eben doch nur ein Beitritt, eine Art Zweckehe, die alte Geschichte: junge Braut und reicher Sack. Zwar warf sich die kleine naive DDR dem alten Schwerenöter aus dem Westen an den Hals, aber wenn er sich heute ihren blühenden Landschaften nähert, obenrum etwa in Mecklenburg-Vorpommern, erntet er schroffe Ablehnung. Er soll auf seiner Seite bleiben. Sie soll sich nicht so haben: Immerhin habe sie es selbst gewollt!

Solche Sprüche nimmt sie ihm besonders übel: Ihr erst die eingebildete Unschuld nehmen, dazu die Filetstücke ihres volkseigenen Körpers, auf Stellungen und Posten rumturnen, von denen er früher nur geträumt hat. Aber immer so tun, als habe er sie persönlich aus der sozialistischen Gosse geholt. Macho! Schlampe! Vergewaltiger! Heulsuse! So geht das nun schon 25 Jahre. Wie bei einem vorgetäuschten Orgasmus hat die Lüge von der Wiedervereinigung beide noch unzufriedener gemacht. Sie merkten schnell:

2. Dass sie ein Volk sind, oder wenigstens mal waren, reichte nur für eine Nacht. Gerade die gemeinsamen völkischen Wurzeln waren ja 1945 dermaßen verrottet, dass sie für immer gerodet werden sollten. Deshalb hat man sie so lange getrennt gehalten und erzogen, wie es unterschiedlicher kaum ging. Streng wachten ihre Erziehungsberechtigen über den eisernen Vorhang, erzählten Schauermärchen und verboten jeden Flirt. Nie wieder sollten sie etwas miteinander anfangen: Pershing statt Petting. Kein Wunder, dass die nationalen Hormone verrückt spielten, als sich die beiden nach 40 Jahren plötzlich halbnackt gegenüber standen.

Unbeholfen fielen sich Brüder und Schwestern in die Arme und sahen zunächst großzügig über Macken des anderen hinweg. Niemand hatte mit Inzest gerechnet, einen Gummi dabei oder zugehört, als einer der Entspannungskuppler vor "geistig-kulturellen Hemmschwellen und seelischen Barrieren" warnte. Willy Brandt sprach nämlich nicht nur - oft verkürzt zitiert - vom "zusammenwachsen". Er sagte viel mehr: "Aber mit Takt und Respekt vor dem Selbstwertgefühl der bisher von uns getrennten Landsleute wird es möglich sein, dass ohne entstellende Narben zusammenwächst, was zusammengehört." 

3. Dass es eigentlich kein Thema mehr ist, versichern sich beide seit 25 Jahren, als ließen sich diese Narben wie Warzen besprechen. Er fand ihre menschliche Wärme "erfrischend". Sie ahmte seine kalten Ellenbogen nach.

Leider kam sie schnell dahinter, dass er zwar mehr Dampf erzeugte, aber auch nur mit lauwarmem Wasser kochte. Sein Interesse kühlte ebenso rasch ab, als sich ihre exotische Herzlichkeit als eine Art Beschaffungssolidarität entpuppte, die nur für Wirtschaftsflüchtlinge aus der eigenen Familie galt. Umso näher sie sich kamen, desto fremder wurden sie einander. Neid und Verlustängste hätten immer noch eine gemeinsame Basis sein können, aber weil das keiner zugeben wollte, logen sie sich weiter in die Tasche: Wird schon. Muss ja. "Wir schaffen das!"

Angeblich gab es überall solche und solche, was natürlich jeder gesunden Menschenerfahrung widersprach. Und für ein Thema, das gar keins mehr ist, verkaufen sich Bücher darüber heute immer noch so gut wie Beziehungsberater und klingen auch so, zum Beispiel: "Gib Wessis eine Chance."

4. Dass sie eine Sprache sprechen - wenigstens das schien bis auf ein paar neue Vokabeln keine Barriere. Anfangs haben sie sogar noch gemeinsam darüber gelacht, wenn Verabredungen an der Uhrzeit scheiterten, und sie nach der Kaufhalle fragte, während er am Supermarkt auf sie wartete. Regionale Unterschiede, Dialekte, geschenkt.

Der dialektische Ursprung steckte tiefer. Broiler und Datsche waren nur Symptome der verklemmten Kommunikation. Nicht mit Worten sondern zwischen den Zeilen redeten sie ständig aneinander vorbei: Hätte er ihr ausdrücklich sagen sollen, dass nicht alles Gold ist, was im Westen glänzt? Woher sollte sie wissen, dass mit blühenden Landschaften menschenleere Landstriche gemeint waren, dass hinter jeder großzügigen Geste immer ein Geschäft lauert - oder er - hinter jedem offenen Wort ein Fettnäpfchen?

Unerträglich, seine zielstrebige Art; viel zu umständlich ihre. Nie haben sie sich auf Augenhöhe unterhalten. Selbst wenn es so aussah, hat er sich immer heimlich herabgebeugt und sie versuchte, auf Zehenspitzen zu stehen.

5. Dass es nur eine Frage der Zeit ist, hieß es die ersten Jahre noch. Inzwischen soll die übernächste Generation die Unterschiede überwinden. Man gewöhnt sich eben doch nicht an alles. Nicht an ihre Blicke, bei denen er nie weiß, ob sie ihm gleich eine Horde Skinheads auf den Lack seines Wagens hetzt. Nicht an seine selbstgefällige Art, mit der er ihr voreheliches Leben beurteilt, oder die Selbstverständlichkeit, mit der er sich überall vordrängelt. Wie taktlos! Wie distanzlos! Angeber! Mimose!

Nach wie vor verwechselt sie seine Selbstsicherheit mit Überlegenheit. Er dagegen hält ihre Zurückhaltung für eine Charakterschwäche und wird nie verstehen, wieso bei ihr zu Hause staatliche verordnete Solidarität oder gesellschaftliche Arbeit immer noch anrüchig sind. Beide haben diese Dinge verinnerlicht, beide geben es sogar noch an ihre Kinder weiter - sie vor allem, denn sie hat ja sonst nicht viel zu vererben.

6. Dass es nur eine Geldfrage ist, dachte er. Typisch, findet sie, als wenn es nur darum gehe! Und richtig liebevoll klingt es auch nicht mehr, wenn er sie sein kleines Milliardengrab nennt. Neue Straßen, Supermärkte, Arbeitsämter - was will sie denn noch?! Er hat das gern bezahlt, das meiste floss ja ohnehin zurück. Die fähigsten Beamten und Manager, die er 1990 gerade entbehren konnte, dufte sie sogar behalten. Wer ahnte auch, dass sie trotz Schweiß und Parfüm weiter nach Bitterfeld riechen würde - oder er ihr trotz seines Geldes irgendwann stinken könne?   

Als Entschädigung spendierte er ihr ein paar Schönheitsoperationen und schrieb die Kosten dafür als Sonder- oder Denkmal-Afa vom gemeinsamen Haushaltsgeld ab. Ihre gelifteten Häuser gehören nun alle ihm, und sie soll auch noch dankbar Miete zahlen: Er hat sie abhängig gemacht. Einkaufen soll sie und sonst zu Hause bleiben, so wie er das von Frauen kennt - sie aber nicht. Macho! Rabenmutter! Verwöhnaroma? Pustekuchen.

7. Dass es allein auf den Aufbau Ost der Beziehung ankommt, war eben auch nur die halbe Wahrheit, ab und zu Chefsache im Wahlkampf und ansonsten eine Subventionsmaschine für seine windigen Geschäfte. So hat ihm die junge Frau mit ihren vielen Wünschen zwar zunächst einen gesundheitlichen Aufschwung beschert. Doch jeder Jungbrunnen versiegt irgendwann.

Ehrlicherweise hätte der alternde Bräutigam rechtzeitig daran denken müssen, dass er selbst auch nicht jünger wird und zunehmend abbaut. Zur Hochzeit vor 25 Jahren  wäre die Gelegenheit gewesen, ein paar Laster aufzugeben, seinen Selbstbetrug etwa vom ewigen Wachstum.

Aber eitel wie viele alte Männer hat er sich überschätzt und obendrein seinen Gesundheitszustand verschwiegen. Nun ist zu spät für Reform-Viagra. Und sie lacht ihn nur noch aus, wenn er den Aufschwung nach jeder neuen Euro-, Banken- oder Flüchtlings-Krise auf die nächste Nacht verschiebt: Nur Geduld! Großmaul! Wir müssen den Gürtel alle … Ausgerechnet Du!

Was leere Versprechen betrifft, macht er ihr nichts mehr vor. Sie hat alles schon durch, was ihn jetzt erst einholt: Verunsicherung, Vergreisung, Verarschung. Selbst wenn über Nacht ein ganzes System verschwindet, lässt sie das kalt: Nichts ist für immer. Anders als er ist sie abgehärtet und fatalistisch zugleich.

8. Dass die Mauer in den Köpfen schuld sei, beklagen beide - und jeder meint die vernagelte Birne des anderen. Der Unterschied ist nur: Er durfte - und hat trotzdem nie groß über den Sims geschaut. Sie dagegen kennt inzwischen beide Seiten und vergleicht, was er sich natürlich heftig verbittet: Sie soll endlich aufhören, nostalgisch ihrer Jugend nachzuhängen, als sei das die Unschuld vom Lande gewesen. Allein diese Spitzelei überall - schlimm genug, dass sie das so lange ausgehalten hat!

Er muss es ja wissen! Womöglich direkt von der NSA? Und die Mauer in den Köpfen - lächerlich. Laut Umfragen ist sie überall: In den Töpfen, in den Betten, im Portemonnaie und natürlich an der Wahlurne. Er kann sich nicht mal vorstellen, wie man aus Trotz und Rache auch nur eine Wählerstimme vergeuden kann. Sein Entsetzen darüber entschädigt sie jedes Mal.

9. Dass man Unterschiede überwinden muss, war offenbar der falsche Ansatz. Von der Unmöglichkeit einmal abgesehen: Warum eigentlich? Und warum immer nur in einer Richtung? Seit 25 Jahren kommt er ihr dann mit dem "Grünen Pfeil" - und dass er wegen ihr sogar seine Postleitzahl ändern musste. Manchmal schwant ihm allerdings auch Schlimmeres: Hat ihn das Dummchen vielleicht doch heimlich kaputt gespielt, unterwandert und ausgenommen? Immerhin regiert so eine Zonen-Gabi nun schon zehn Jahre das ganze Land. Ab und zu - wenn sein Volkswagen plötzlich stinkt wie ein Trabi oder sein Porno-Verbindungsdaten auf Vorrat gespeichert werden sollen wie eine Stasi-Geruchs-Konserve - mischt sich tatsächlich eine Spur Verunsicherung in sein überhebliches Lächeln. Sie aber kann ihn beruhigen: So schlimm ist es gar nicht, von einer Diktatur in die andere zu wechseln. Ein paar neue Rituale, Begriffe, neue Erfahrungen, zwei Welten - mehr nicht.

10. Dass man die Hoffnung nicht aufgibt, gehört zum schönen Schein. Wegen der Kinder, aus Gewohnheit oder weil sie nur einen Einigungsvertrag haben, keinen perfekten Ehevertrag. Sie wissen beide: Da kommen sie nicht mehr raus und stoßen deshalb auch am 25. Hochzeitstag auf ihre zerrütte Ehe an.

Er hält eine Sonntagsrede. Sie beißt die Zähne zusammen. Kein Wort von getrennten Betten. Auf die Gemeinsamkeiten komme es an: Manchmal, so lobt er, merke man kaum noch, dass sie aus Hoyerswerda stammt. "Im Westen angekommen" ist sein größtes Kompliment. Er meint das sogar ehrlich und versteht nicht, warum sie schon wieder beleidigt ist.

Trotzig köpft sie eine Flasche Rotkäppchen. Er verzieht das Gesicht, aber gibt auch scheinheilig zu: Das hätte er wirklich nie gedacht, dass die Süße mal seine Sektmarken M&M und Mumm fressen würde. Das ist wieder nur so ein Märchen: Natürlich gehörte Rotkäppchen da längst mehrheitlich einem seiner Konzerne. Und beide ahnen, dass es sich mit der FDJlerin im Kanzleramt ähnlich verhält.

So gaukeln sie sich weiter etwas vor, lieben und hassen sich und wünschen sich die Zeit zurück, als es noch ein eigenes Ministerium für deutsch-deutsche Beziehungen gab. Gib's ruhig zu, stänkert sie. Niemals, zischt er zurück. Wessi! Ossi! Asi! Selber!

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