Heimweh, das ist für Emine Sahin der Duft von Lebkuchen. Wenn es im November auch in Istanbul kalt und ungemütlich wird, dann bekommt die Türkin Sehnsucht nach Deutschland. Manchmal so sehr, dass sich die 39-Jährige in der Adventszeit in den Flieger setzt und in ihre Heimat fliegt. Nach Frankfurt. Emine Sahin ist in Deutschland aufgewachsen. Ihre Eltern lebten den typischen Gastarbeitertraum. 1973 kamen sie in die fränkische Provinz. Der Vater arbeitete als Bauarbeiter, die Mutter zog fünf Kinder groß. Doch ihre Tochter konnte trotz Architekturdiplom in der Tasche nie richtig Fuß fassen in der deutschen Arbeitswelt.
Als sie vor ein paar Jahren ihren Job verlor, wollte sie sich nicht in die Schlange beim Arbeitsamt einreihen. Sie kannte die Geschichten von deutschtürkischen Freunden. Junge Akademiker, deren Bewerbungen allzu oft von Personalern zur Seite gelegt wurden, weil sie Aslan, Bülent oder Ünal heißen. Emine Sahin fasste einen Entschluss, ging den umgekehrten Weg ihrer Eltern - und wanderte in die Türkei aus. Zunächst nach Ankara, dann nach Istanbul. Sie ist nur eine von vielen.
Im vergangenen Jahr haben mehr Türken Deutschland verlassen, als nach Deutschland gekommen sind. So die aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamtes. Es kamen 115.000 Polen - aber nur 27.000 Türken. Sie machen damit nur drei Prozent aller neuen Einwanderer in der Bundesrepublik aus. Ein Trend, der sich seit Jahren verstärkt.
Exzellent ausgebildet - und chancenlos
Woran liegt das? "Mit einem türkischen Namen hat man kaum Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt", ist Emine Sahin überzeugt. In Istanbul konnte sich die Projektentwicklerin dagegen einen Job aussuchen. Viele der jungen Türken, die Deutschland den Rücken kehren, sind nicht Verlierer des deutschen Bildungssystems, sondern wie Sahin exzellent ausgebildet und im besten Erwerbsalter. Während sie in Deutschland mit Ressentiments zu kämpfen hatten und keine Zukunft sahen, erwarten sie in der Heimat ihrer Eltern höhere Gehälter und bessere Aufstiegschancen.
Die türkische Wirtschaft wächst so rasant wie in keinem anderen europäischen Land. Im vergangenen Jahr legte das Bruttoinlandsprodukt um 8,9 Prozent zu. Qualifizierte, mehrsprachige Kräfte werden gebraucht. Die Folgen der Abwanderung sind dagegen in Deutschland bereits zu erkennen: 50 Jahre nach dem ersten Gastarbeiterabkommen mit der Türkei gehen hierzulande die qualifizierten Arbeitskräfte aus. Studierte Ingenieure oder Wirtschaftswissenschaftler zieht es ins Ausland. Unter all dem Sarrazin-Getöse und den endlosen Einwandererdebatten hat man das wirtschaftliche Potenzial der Migranten viel zu lange verkannt.
Mehmet Daimagüler kennt dieses Problem nur zu gut. Der Rechtsanwalt mit türkischen Wurzeln machte Karriere in Berlin. Der Gastarbeitersohn wollte dazu gehören. Er studierte in Harvard und Yale, trat der FDP bei, wurde zum Buddy von Guido Westerwelle. Ein Vorzeige-Integrierter. Mit einem Leben voller Bestrebungen, Bemühungen, Anpassungen. Immer hatte er das Gefühl, mindestens doppelt so viel geben zu müssen wie seine deutschen Kollegen. "Ich habe funktioniert, so lange ich konnte", erzählte der 43-Jährige dem stern. Vor drei Jahren hat er plötzlich nicht mehr funktioniert. Ein Mann nannte ihn Kanake. Dr. Daimagüler schlug ihn auf der Straße zusammen. Jetzt hat er ein Buch geschrieben. Über das Leben eines nur scheinbar Integrierten. Eine Geschichte, die von Zerrissenheit handelt und vom Überleben. In Deutschland: "Kein schöner Land in dieser Zeit - Das Märchen von der gescheiterten Integration".
Zu türkisch in Deutschland, zu deutsch für die Türkei
Dieses Scheitern ist oft Thema bei dem so genannten Rückkehrerstammtisch in Istanbul. Die Gründerin dieses Treffens, Cigdem Akkaya, hat selbst ihr halbes Leben in Deutschland verbracht. Auch sie hatte irgendwann die Integrationsdebatten und den Rechtfertigungsdruck satt. Heute leitet die 48-Jährige eine PR-Agentur in Istanbul und bringt die "Deutschländer", die zurückgekehrten Deutschtürken, zusammen. Hier ist man unter sich, die gebildete Elite der Zurückgekehrten. 1500 Personen stehen mittlerweile in Akkayas Verteiler.
Auch Emine Sahin geht monatlich in die Kneipe im Istanbuler Ausgehviertel Beyoglu. Sie organisiert diese Treffen mit, sieht sich als "große Schwester" für Neuankömmlinge. Gerade erst wieder hat sich eine neu Zugezogene bei ihr ausgeweint, sie wüsste nicht, wer sie sei. Identitätsprobleme und Zerrissenheit zwischen den Kulturen sind häufig Thema beim Stammtisch. "Deutschländer" seien ihr näher als gebürtige Türken, die nie das Land verlassen haben, so Sahin. Für die "Lokaltürken" sind Frauen wie sie viel zu modern, zu weltgewandt und direkt. Und dann ist da auch noch dieser deutsche Dialekt, der Probleme bereitet.

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Es sind nicht nur Erfolgsgeschichten, die hier in Beyoglu bei den Treffen auf den Tisch kommen. Die "Gastarbeiterkinder" werden nicht überall am Bosporus mit offenen Armen aufgenommen. Auch Emine Sahin hatte anfangs mit Neid und Rassismus zu kämpfen. Als "Landesverräterin" wurde die gebürtige Fränkin beschimpft. Als "Angeberin" wurde sie abgetan, wenn sie von Auslandserfahrungen und Praktika in England oder Katar erzählte. Auch in der Türkei, so scheint es, haben es die Deutschtürken schwer mit der Integration. Stammtisch-Organisatorin Akkaya erkennt bei vielen Teilnehmern eine Art "Heimatlosigkeit".
Vermutlich wird sie irgendwann nach Deutschland zurückkehren, erzählt Emine Sahin, die sich in Frankfurt immer als Türkin und nicht dazugehörig gefühlt hatte. Als sie vor vier Jahren nach Istanbul kam, war sie nicht nur auf der Suche nach beruflichen Perspektiven, sondern auch nach sich selbst, nach ihrer Identität. Erst in der Türkei, so Emine Sahin, sei ihr endlich bewusst geworden, wer sie wirklich ist. Heute bezeichnet sie sich als Deutsche. Zumindest solange, bis sie eines Tages nach Deutschland zurückkehrt.
Von Katharina Miklis