Analyse Frühherbst einer Kanzlerin

In der Koalition herrscht Chaos, die Gesundheitsreform steht auf der Kippe. Die Ministerpräsidenten der Union rebellieren, Müntefering rempelt gegen Schmidt. Die Kanzlerin steht schwächer da denn je - ihr droht ein GAU.

Alle haben es gesagt. Wieder und wieder. Öffentlich und in den kleineren Runden dieser Berliner Republik. Die Roten, die Schwarzen. Es war das erste Gebot dieser Koalition: Diese große Koalition muss Großes leisten, lautete es, sonst hat sie ihre Existenzberechtigung verloren. Und das wichtigste Projekt dieser großen Koalition, das sollte die Gesundheitsreform sein. Genau in diesem Bereich, wo es unzählige Interessen, Lobbyisten, Partys und Papiere gibt, genau da wollte die Koalition, und allen voran Kanzlerin Angela Merkel, ein Zeichen der Stärke setzen. Durchregieren, wie Merkel das zu anderen Zeiten genannt hätte.

Jetzt, im ersten Herbst dieser Regierung, sind alle Hoffnungen zerschlagen, das erste großkoalitionäre Gebot zur Farce verkommen. Die Koalition steht vor den Trümmern ihrer Gesundheitsreform, die Kanzlerin wird mit dem zermürbenden hin und her identifiziert, sie ist schwächer denn je. In der vergangenen Woche musste sie nach einem Treffen der Siebener-Runde der Partei- und Fraktionschefs die Verschiebung der Reform um drei Monate verkünden. Seitdem haben sich die Büchsenspanner aller Seilschaften in Position gebracht.

Eine 22-seitige Mängelliste aus Bayern

Die Bayern zerschießen das Projekt nach allen Regeln der Kunst. Berlin-Flüchtling Edmund Stoiber will 2008 als Ministerpräsident wieder gewählt werden. Einmal noch. Deshalb versucht er jetzt alles aus dem Weg zu räumen, was ihm im Wahljahr auf die Füße fallen könnten: Eine schlampig umgesetzte Reform; eine angebliche Mammutbehörde, die Beiträge einzieht; eine übermäßige Belastung seiner eher gesunden Bürger auf dem Weg über den so genannten Morbiditäts-Ausgleich der Kassen; und eine Deckelung des Zusatzbeitrags, den die Kassen ihren Versicherten aufbürden dürfen, wenn das Geld aus dem Gesundheitsfonds nicht ausreicht.

Dieser Zusatzbetrag, die Mini-Kopfpauschale, soll eine Grenze von maximal einem Prozent des Haushaltseinkommens nicht überschreiten dürfen. Das ist eine SPD-Forderungen, die Bayern partout nicht hinnehmen will. Aber damit nicht genug. Das bayerische Sozialministerium von Ministerin Christa Stevens lässt dieser Tage angeblich ein 22-seitiges Papier kursieren, in dem penibel aufgelistet ist, was München an der Gesundheitsreform stört.

Ein GAU für Angela Merkel

Aber nicht nur der für Merkel mittlerweile wieder unberechenbare Stoiber rebelliert gegen die Gesundheitsreform. Auch andere Ministerpräsidenten der Union fordern Nachbesserungen, vor allem an jenem Fonds, der den Kern der Reform darstellt. Die Parteifreunde aus dem Saarland, aus Sachsen, aus Niedersachsen, aus Baden-Württemberg. Sie alle dringen auf Änderungen oder warnen vor einer neuen "Mammutbehörde", die für den Einzug der Beiträge zuständig sein könnte. Für diesen Dienstagnachmittag haben sich die zuständigen Minister der unionsregierten Länder zu einer Telefonkonferenz verabredet, auf der sie eine gemeinsame Position festlegen wollen.

Im Prinzip ist es jedoch schon fast einerlei, welche Linie die Ländervertreter beschließen: Alleine dadurch, dass die Ministerpräsidenten nun gemeinsam das zentrale Projekt der Chefin im Kanzleramt attackieren, droht der Gesundheitsreform ein Tod auf Raten. Angela Merkel droht dabei der GAU, der größte anzunehmende Unfall.

Die Umfragewerte der Union verharren ohnehin seit Monaten auf Tiefstständen. Wenn jetzt auch noch das innenpolitische Kernprojekt der Kanzlerin platzt, wird sie sich umgehend schweren Vorwürfen von Führungsschwäche erwehren müssen, die kein noch so schöner Auftritt im Ausland übertünchen kann. Dass ausgerechnet Stoiber, der sich ja eigentlich in stiller Demut vor allem bayerischen Dörfern widmen wollte, nun durch seine Wiederwahlpläne so entscheidend zu Merkels Kalamitäten beiträgt, muss Merkel wie ätzende Ironie erscheinen.

Müntefering versus Schmidt

Dabei brodelt es in Sachen Gesundheitsreform auch in der SPD. Arbeitsminister Franz Müntefering dringt laut Zeitungsberichten darauf, den Einzug der Gebühren möglichst zu zentralisieren. Die "Süddeutscher Zeitung" meldete, Münteferings Beamte wollten eine neue "Bundesverwaltung für den Beitragseinzug schaffen." Postwendend dementierte Münteferings Sprecher. Es gehe lediglich darum, ein System zu finden, dass die Auszahlung der Renten reibungslos gewährleiste, hieß es. Gesundheitsministerin Ulla Schmidt sträubt sich ohnehin gegen jedwede Zentralisierungsabsichten des Genossen. Sie will regionale Einzugsstellen schaffen.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Und so steht die große Koalition derzeit, schneller als vermutet, an einer Wegscheide. Zwar schwören derzeit noch alle Beteiligten hoch und heilig jeden Eid auf die Eckpunkte der Gesundheitsreform, zwar streiten sie vordergründig nur um die Gestaltung und die Details des Gesundheitsfonds. Tatsächlich aber geht es schon längst nicht mehr um Sach-, sondern um Machtfragen. Kippt die Reform, ist Merkel geschwächt, die Genossen ramponiert, auch wenn sie derzeit leicht besser aussehen dürften als die Unionisten. Im Prinzip kann es sich daher derzeit keiner der beiden Partner leisten, einen radikalen Schnitt zu wagen, die Koalition prinzipiell in Frage zu stellen. Zu eng sind Union und SPD aneinandergekettet, zu tief wäre der Fall. Und deshalb müssen sie wohl weitermachen, auch wenn die große Koalition nichts Großes leistet, wenn sie nicht einmal etwas Kleines leistet, auch wenn die Kanzlerin schwer angeschlagen ist, nach nur knapp einem Jahr.