Herr Butterwegge, fahren Sie lieber Fahrstuhl oder Paternoster? Ich weiß, worauf Sie anspielen. Natürlich würde ich gerne zusammen mit der ganzen Gesellschaft im Fahrstuhl nach oben fahren. Die Wirklichkeit sieht aber anders aus: In unserer Gesellschaft geht es wie im Paternoster für die einen abwärts, während die anderen nach oben fahren.
In Ihrem neuen Buch behaupten Sie ebenfalls, dass in Deutschland immer mehr Menschen verarmen. Die offiziellen Armutsberichte sprechen eine andere Sprache: Der Bundesregierung zufolge ist die Armutsquote seit zehn Jahren lediglich um ein Prozent gestiegen, in den letzten fünf Jahren sogar gefallen. Das liegt daran, dass die Bundesregierung bei ihrem jüngsten Armutsbericht die Berechnungsgrundlage verändert hat. Im Jahr 2005 galt als arm, wer weniger als 938 Euro netto im Monat zur Verfügung hatte, im Jahr 2008 wurde die Grenze auf 781 Euro gesenkt. Dass die offizielle Armutsquote in den letzten zehn Jahren kaum gestiegen ist, liegt nur an diesem statistischen Trick. In Wahrheit ist die soziale Lage von Millionen Menschen alarmierend schlecht.
Wer ist schuld an der Entwicklung? Ein neoliberales Konzept, das dem Markt bei uns zu viel Raum gibt und immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft kommerzialisiert. Bis Mitte der 1970er Jahre war die Bundesrepublik ein sozialstaatliches Musterland. Darauf waren die Deutschen damals auch stolz. Seitdem wird der Sozialstaat ab- und umgebaut. Das gipfelte unter der Regierung Schröder in den Hartz-Gesetzen, die nur noch das Existenzminimum absichern. Die Große Koalition hat Hartz IV sogar noch verschärft, auch deshalb haben wir heute mehr Armut.
Zur Person
Professor Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaft an der Kölner Universität. In den vergangenen Jahren schaltete er sich mit Veröffentlichungen zu den Themen "Kinderarmut in Ost- und Westdeutschland", "Krise und Zukunft des Sozialstaates" sowie "Kritik des Neoliberalismus" in die öffentliche Debatte ein. Am 18. Juni erscheint sein neues Buch "Armut in einem reichen Land - Wie das Problem verharmlost und verdrängt wird".
Die Große Koalition hat aber auch das Kindergeld um zehn Euro angehoben, einen Zuschuss zum Schulbedarf eingeführt und das Wohngeld erhöht. Das Kindergeld war zuvor jahrelang nicht erhöht worden. Die zehn Euro, die jetzt dazukommen, gleichen nicht mal die Inflation aus. Auch die 100 Euro aus dem Schulbedarfs-Paket für die Kinder von Bedürftigen sind bei weitem nicht genug. Weil das Kindergeld auf die Hartz-IV-Leistungen angerechnet wird, bekommen die Kinder der Ärmsten nun sogar 20 Euro weniger im Jahr als ihre Altersgenossen. Das nach Jahrzehnten erstmals wieder erhöhte Wohngeld entlastet viele Rentner-Haushalte, ist aber nur ein Tropfen auf dem heißen Stein. Unterm Strich ändert das nichts an der Tatsache, dass die Bundesregierung die Armen im Stich lässt.
Haben die Armen im Bundeskabinett keine Stimme? Die SPD regiert doch mit.

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Im Einzelnen ist von Außen schwer zu beurteilen, wer für was verantwortlich gewesen ist. Generell lässt sich aber sagen, dass sich die SPD häufig für den Machterhalt entschieden und der Union gebeugt hat, sich also ebenfalls unsozial verhalten hat. Ein Beispiel dafür ist die Reform der Erbschaftssteuer, wo besonders die CSU den Sozialdemokraten die Daumenschrauben angelegt hat. Auch beim Schulbedarfspaket wollte die SPD ursprünglich 200 Euro durchsetzen, das hat die Union verhindert.
Wer ist arm?
In der Wissenschaft unterscheidet man drei Arten von Armut. Fachleute sprechen von subjektiver Armut (der Betroffene fühlt sich arm, ist es aber nicht), absoluter Armut (wenn es ums reine Überleben geht) und relativer Armut (das Leben ist gesichert, das soziokulturelle Existenzminimum aber nicht).
In Entwicklungsländern misst man zumeist die absolute Armut: Einer Definition der Vereinten Nationen zufolge zählt derjenige als arm, der weniger als einen US-Dollar am Tag zum (Über-)Leben hat. In vollentwickelten Industriestaaten wie Deutschland interessiert hingegen die relative Armut. Gemäß EU-Definition lebt in relativer Armut, wer weniger als 60 Prozent des Durchschnittseinkommens verdient.
Konkret ist dem jüngsten Armutsbericht der Bundesregierung zufolge arm, wer in Deutschland als Single weniger als 781 Euro netto im Monat zur Verfügung hatte. Laut dieser Definition lebten im vergangenen Jahr 13 Prozent der Bundesbürger in Armut.
Dafür hat die CDU für die Erhöhung des Kindergeldes gesorgt. Ja, aber das Kindergeld ist problematisch! Über den Steuerfreibetrag bekommen die Großverdiener pro Kind 240 Euro im Monat, die Angehörigen der Mittelschicht erhalten 164 Euro, und die Ärmsten der Armen gehen leer aus, weil alles auf ihre Sozialleistungen angerechnet wird. Das bedeutet: Reiche werden gefördert, Arme bleiben auf der Strecke! Zur Armutsbekämpfung taugt das Kindergeld wenig.
Was hätte die Koalition denn Ihrer Meinung nach beschließen sollen?
Für mich gibt es drei armutspolitische Schlüsselforderungen: Erstens ein gesetzlicher Mindestlohn, wie es ihn in 20 europäischen Ländern bereits gibt. In Frankreich beträgt er neun Euro die Stunde, daran könnten wir uns orientieren. Zweitens brauchen wir eine soziale Grundsicherung, die den Namen verdient - Hartz IV muss auf mindestens 450 Euro plus Miet- und Heizkosten steigen. Drittens muss zur Finanzierung die Vermögensteuer wieder eingeführt und die Erbschaftssteuer auf große Vermögen erhöht werden.
Im Moment sieht es so aus, als ob CDU und FDP gute Chancen haben, ab Herbst die neue Bundesregierung zu stellen. Was erwartet uns dann? In diesem Fall wird sich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnen. Dadurch verschärft sich auch der Zerfall der Städte in Luxusviertel und soziale Brennpunkte. Vielleicht gehören Slums nach der Wirtschaftskrise auch bei uns zur Normalität. Und die Armen müssten sich wärmer anziehen, weil der Druck auf sie unter einer schwarz-gelben Regierung erheblich zunehmen dürfte.
Wieso?
Irgendjemand muss schließlich die Zeche dafür zahlen, dass die Banken saniert werden. Aus meiner Sicht sind es die Arbeitnehmer, die Mittelschicht und die Armen. Zwar ist bei den Letzteren nicht mehr viel zu holen. Aber ich kann mir vorstellen, dass die Regierung in der nächsten Legislaturperiode auf die Idee kommt, dass ein Armer auch mit 150 Euro im Monat gut leben kann.
DGB-Chef Michael Sommer und die ehemalige SPD-Präsidentschaftskandidatin Gesine Schwan haben gewarnt, dass die Wirtschaftskrise zu "sozialen Unruhen" führen könnte. Teilen Sie diese Befürchtung?
Nein, die Deutschen neigen eher zur Friedhofsruhe. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Menschen der Politik den Rücken zukehren, was für eine Demokratie verheerend ist. Oder sie wenden sich den Rechtsextremisten oder den Rechtspopulisten zu, was in anderen Ländern schon geschieht, wie die Europawahl gezeigt hat. Das könnte uns auch bevorstehen, denn erfahrungsgemäß sucht das deutsche Kleinbürgertum, wenn es Angst vor dem sozialen Abstieg hat, eher am rechten Rand als links nach Lösungen.