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"heute wichtig" Jedes fünfte Kind in Deutschland ist armutsgefährdet

Kinderarmut in Deutschland
Kaum Geld für Kleidung und Essen: Viele Kinder in Deutschland sind armutsgefährdet
© Ute Grabowsky / Picture Alliance
Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Kinderarmut betroffen. Zementiert wird das vom hierarchischen Schulsystem und der komplexen Bürokratie.

Jedes fünfte Kind in Deutschland ist von Armut betroffen – in Zahlen gesprochen schließt das laut einer Studie der Bertelsmann Stiftung 2,55 Millionen Kinder ein. "Armutsgefährdet ist ein Kind dann, wenn es in einer Familie aufwächst, die weniger als 60% des mittleren Einkommens zur Verfügung hat", erklärt der Kölner Politikwissenschaftler Prof. Christoph Butterwegge im Morgenpodcast "heute wichtig". Bei Alleinstehenden sind das weniger als 1148 Euro im Monat, mit mehreren Erwachsenen oder Kindern ist die Untergrenze höher.

Doch insbesondere mit den steigenden Energiekosten und der Inflation breitet sich das Problem bis in die Mitte der Gesellschaft aus, fasst Butterwegge zusammen: "Auch Familien, die bisher ganz gut über die Runden kamen, [...] geraten in Schwierigkeiten, wenn sich der Gaspreis so stark erhöht, dass man bisher zwar auskam, aber jetzt unter Druck gerät. Dann entsteht die Frage: Soll man frieren oder soll man hungern?" Deshalb dreht sich diese 364. Episode zum Weltkindertag am 20. September ganz um das Thema Kinderarmut.

Kinderarmut: Arm in einem reichen Land zu sein ist erniedrigend

Die Wissenschaft unterscheidet zwei Typen von Armut: Absolute und relative Armut. Laut Prof. Butterwegge können Menschen, die von absoluter Armut betroffen sind, ihre Grundbedürfnisse nicht mehr decken – das Geld reicht beispielsweise nicht mehr für genügend Nahrung, winterfeste Kleidung oder ein Dach über dem Kopf. Betroffene sind unter anderem obdachlose Menschen.

In Deutschland kommt aber die relative Armut häufiger vor, erklärt der Sozialforscher: "Relativ arm ist jemand, der kann seine Grundbedürfnisse befriedigen. Aber er kann sich vieles von dem nicht leisten, was in einer so wohlhabenden, wenn nicht reichen Gesellschaft wie unserer für fast alle Mitglieder dieser Gesellschaft als normal gilt." Wenn zum Beispiel der Musikunterricht oder der Sportverein zu teuer wird, oder Besuche in Theater, Kino oder Zoo gar nicht erst möglich sind.

In einem reichen Land arm zu sein könne deshalb sogar erniedrigender sein, als in einem armen Land: "Wenn ein Kind im tiefsten Winter in Sommerkleidung und Sandalen auf dem Schulhof steht und von den eigenen Klassenkameraden ausgelacht wird, dann ist für dieses Kind natürlich das Entscheidende, dass es gedemütigt wird und nicht, dass es die Kälte spürt."

"Einmalpakete helfen kurzfristig, bleiben aber Tropfen auf dem heißen Stein"

Adrienn Schmidt kümmert sich um genau solche Kinder. Sie leitet die Kinderhilfsorganisation "Die Arche" in Leipzig und sorgt dafür, dass bedürftige Kinder ein warmes Mittagessen bekommen. Oder zuhause einfach mal rauskommen, wenn es nötig ist. Sie erlebt häufig, dass Kinder ihre eigene Armut so nicht wahrnehmen, oder versuchen, diese zu vertuschen: "Kinder bezeichnen sich nicht selbst als arm, weil sie auch die Statussymbole nach außen hinhaben. Die haben alle ein funktionierendes Handy, einen Flachbildschirm zuhause, sie haben weitestgehend Markenklamotten an." Der Außeneindruck sei wichtig für viele.

Trotzdem merkt auch Adrienn Schmidt, dass inzwischen mehr Menschen bei ihr Hilfe suchen als noch vor ein paar Monaten oder Jahren. Damit diese dramatische Entwicklung nicht noch weiter zunimmt, fordert die Arche eine gesenkte Mehrwertsteuer auf gesunde Lebensmittel – und die Kindergrundsicherung, für die sich auch Bundesfamilienministerin Lisa Paus einsetzt. Die Kindergrundsicherung soll es unabhängig von der Familiensituation sein, erklärt Lisa Paus im Interview mit RTL: "Ein Garantiebetrag für jedes Kind."  Diese Kindergrundsicherung wird aber – sollte das Gesetz verabschiedet werden – ab frühestens 2025 ausgezahlt. Das kommt für viele Familien in der aktuellen Situation zu spät.

Arm in der Schule: "Unser Schulsystem verfestigt die Armut eher"

Außerdem fordern alle Gesprächspartner:innen im Podcast, dass das deutsche Schulsystem endlich reformiert wird. Angestoßen haben diese Recherche die stern-Reporterinnen Catrin Boldebuck und Ingrid Eisele. Bei "heute wichtig" berichtet Boldebuck, dass viele Kinder, mit denen sie gesprochen haben, Bildung als unabdingbar betrachten, um aus der Armut herauszukommen.

Doch statistisch gesehen schaffen das leider immer noch viel zu wenige: "Es ist eher so, dass aus einem Akademikerkind wieder ein Akademikerkind wird. Und dass aus einem Kind, dass aus einfachen Verhältnissen kommt, wieder jemand wird, der eher in der Armutsspirale hängenbleibt und dort nicht herauskommt." Auch deshalb braucht es die Kindergrundsicherung – und "soziale Paten", zitiert Catrin Boldebuck einen Vorschlag des Soziologen Aladin El-Mafaalani: "Menschen, die sie unterstützen, damit sie da herauskommen. Und sie brauchen vor allem unsere Wertschätzung."

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