Die Neuen beginnen als Aussätzige. Das kennt man, aus der Gründerzeit der Grünen. Auf der Rech ten ignoriert man sie, wohlgefällig. Sie sind ja dabei, den Gegner, die SPD, zu skelettieren. Auf der Linken stigmatisiert man sie, hasserfüllt: Verräter und rachsüchtig der eine, Talkshow-geil und unseriös der andere. Und programmatisch von vorgestern alle beide. Oskar Lafontaine und Gregor Gysi betreten als Randständige, Unberührbare die politische Bühne. Doch die haben sie schon jetzt rasant umdekoriert, und das wird so weitergehen. Die Linkspartei, aus PDS und WASG in abenteuerlicher Hast zusammengenagelt, ist dabei, die deutsche Politik gründlich zu verändern. Das historisch zu nennen ist nicht zu gewagt.
Denn ein relevanter Teil der Wähler sieht sie völlig anders als die Etablierten, auch die Medien, fühlt sich gerade wegen der ausgekübelten Verachtung von ihr angesprochen. Aus purem Protest oder politisch wohlbedacht. Dass die Linkspartei noch vor ihrer offiziellen Gründung zweistellige Zustimmung bei Umfragen findet, ist nicht weniger als eine Sensation. Helmut Schmidt hatte den Umweltschutz heimatlos werden lassen - und das historische Zeitfenster für die Gründung der Grünen geöffnet. Gerhard Schröder hat das Linkssoziale heimatlos gemacht - nun steigen Lafontaine und Gysi durchs Zeitfenster der Neuwahl ins politische Haus.
Alle Versuche, es noch rasch von innen zu schließen, sind vergebens. Sie sind schon drin. Heuschrecken-Tapete, Reichensteuer, Reform der Hartz-Reform - kurzum: rote Girlanden - machen die SPD nicht sympathischer, sondern unglaubwürdig. Bestätigen das linke Original, überführen das halblinke Plagiat. In solcher Dekoration dürfen Lafontaine und Gysi gar darauf hoffen, kulturelle Hegemonie zu erobern. Allein der Schatten, den sie vorausgeworfen haben, hat schon genügt, um die gesamte Parteiendebatte nach links zu verrücken. Von der SPD über die Grünen bis tief hinein in die CDU. Steuerentlastung für "Reiche" wagt keiner mehr.
Die Menschen sind klug, sie beobachten das mit feinem Gespür für Opportunismus - und ein Teil von ihnen nimmt es als klare Empfehlung für die Linkspartei. Lafontaine und Gysi gewinnen verbitterte Nichtwähler, herumirrende Protestwähler, auch aus dem Magnetfeld der Rechtsradikalen, und traditionelle Linkswähler. Das verändert die Parteienarithmetik fundamental. Die Wahlbeteiligung steigt - und der Anteil der Konservativen, die in ihrem Spektrum längst alles mobilisiert haben, was zu mobilisieren ist, sinkt relativ. Die Union muss die Hoffnung auf eine absolute Mehrheit fahren lassen, für die FDP wird die Wahl zum Existenzkampf. Die Lager, das rot-rosarot-grüne und das schwarz-gelbe, rücken im Wahlergebnis enger aneinander, als zu erwarten war. Mit anderen Worten: Union und FDP dürften knapper siegen, als sie erhofft haben. Womöglich muss die Union die Liberalen gar huckepack nehmen, mit Leihstimmen. Reichte auch das nicht, käme die große Koalition, denn miteinander bündnisfähig werden SPD, Linkspartei und Grüne nach den Emotionen dieses Wahlkampfs sicher nicht sein.
"Dass die Linkspartei bei Umfragen zweistellige Zustimmung findet, ist nicht weniger als eine Sensation"
Die SPD verabschiedet sich einstweilen als mehrheitsfähige Volkspartei. Das beginnt im Bund und dürfte sich in den Ländern fortsetzen. Die Linkspartei kann dort ähnlich reüssieren wie einst die Grünen. Damit verlieren die Sozialdemokraten nach Schröder ihre politische Gestaltungskraft. Sie werden zurückgeworfen auf die Rolle des kleineren Partners in großen Koalitionen, zur Macht adoptiert von der dominierenden CDU, die nun gleich zwischen drei Partnern wählen kann: SPD, FDP und Grünen. Oder sie sind, bittere Alternative, in einem höchst fragilen Bündnis eingezwängt zwischen Linkspartei und Grünen, ihren historischen Zerfallsprodukten - und das unter dem politischen Diktat Lafontaines, der die Bedingungen stellen kann.
Und der es in der Hand hat, die SPD aus dieser ungemütlichen Lage zu befreien. Denn der Abtrünnige träumt davon, im stern-Gespräch hat er es vergangene Woche offenbart, die Linkspartei in eine dann wieder große linke Volkspartei SPD hineinzuführen. Der Fusion von PDS und WASG vom Wahlbündnis zu einer einzigen Partei, deren Vorsitzender Lafontaine heißen dürfte, würde also die Fusion dieser Linkspartei mit der SPD folgen, deren Vorsitzender zu werden Lafontaines nicht einmal mehr verheimlichter Wunsch ist. Das klingt verwegen heute, und die erste Riege der Sozialdemokraten zeigt ihm dafür den Vogel. Aber diese Riege wird bald nach der Wahl von der Bühne abtreten oder heruntergeschubst werden. Und dann beginnt eine neue Ära, mit neuen Figuren und neuem Kompass. Historisch hätte das Projekt für die SPD einen großen Reiz: Sie könnte nachholen, was sie nach der deutschen Wiedervereinigung nicht gewagt hat - und die nun in der Linkspartei eingeweichte PDS schlucken. Kratzt gar nicht mehr.