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EU-Parlament kippt Acta Geht schon wieder ein Gespenst um in Europa?

Mit einem großen Knall hat das EU-Parlament Acta versenkt. War die Anti-Acta-Party offizielle Geburtsstunde einer politischen Bewegung? Oder ist der Vertrag einer Sponti-Aktion zum Opfer gefallen?
Eine Analyse von Florian Güßgen

Es war im März, als ich in Berlin einem natürlich blutjungen Netzpolitiker gegenüber saß, natürlich einem Acta-Gegner. Er freute sich. Weil im Februar Zigtausende in Deutschland und Europa völlig unverhofft gegen das sperrige Abkommen protestiert hatten; weil plötzlich alle die Geheimniskrämerei bei den Verhandlungen, also Politik old style, geißelten; weil selbst die Justizministerin sich genötigt sah, die deutsche Ratifikation auszusetzen.

Gleichzeitig war der Netzpolitiker etwas verblüfft. Mehr noch, er war ehrlich ratlos. Denn er kannte diejenigen kaum, die da protestiert hatten. Normalerweise gehören die netzpolitischen Aktivisten innerhalb und außerhalb des Parlaments schon zu einer Community, in der man sich kennt. Es sind viele dabei, die sich als Vorkämpfer für Bürgerrechte verstehen, als klassisch politische Freiheitsverfechter im neuen digitalen Lebensraum. Dieser Weltsicht versichern sie sich gegenseitig, bei mittlerweile unzähligen Veranstaltungen und Get-Togethers. Es gibt einen nationalen und internationalen Konferenz-Zyklus, der bisweilen terminlich dichter gedrängt erscheint als die Spieltage der Fußball-Bundesliga. Dazu kommt die ständige Kommunikation über Twitter, über Blogs. Wie gesagt, man kennt sich in der Szene.

Das Netz ist ein Querschnittsthema für die Politik

Und jetzt das. Bei den Acta-Protesten im Februar war alles anders. Da waren plötzlich andere Typen. Es wehten nicht nur Anonymous-Fahnen oder Piraten-Flaggen. Zu sehen gab es auch massenhaft Teenager. Kids, die nicht schon Jura oder Politik studiert oder irgendetwas mit Medien gelernt oder praktiziert hatten, nicht die üblichen Verdächtigen, wenn es um politischen Aktivismus geht. Es waren Jugendliche, die, bisweilen auch durch ziemlich unsachliche Hetze aufgebracht, um ihre Medien fürchteten, vor allem aber auch um den Videokanal Youtube. Ihre Stars, Youtube-Stars, hatten zum Protest aufgerufen.

Diese Beobachtung ist keineswegs neu. Aber sie illustriert deutlich, warum die heutige Ablehnung des Anti-Counterfeiting-Trade-Agreement im Europäischen Parlament ein Meilenstein ist. Der Protest hat gezeigt, dass sich für netzpolitische Themen mittlerweile breite und zuvor unpolitische Bevölkerungsschichten mobilisieren lassen, zumindest kurzzeitig. Das gilt zunächst einmal für die Jungen, die Kids, die mit und im Netz aufwachsen. Für viele von ihnen waren die Anti-Acta-Demos die erste politische Regung, der erste Protest. War in den Achtzigern das politische Erweckungserlebnis vielleicht eine Demonstration gegen Neonazis oder eine Anti-AKW-Demo, ist es jetzt für viele der Protest gegen Acta gewesen. Aber auch Ältere, digitale Einwanderer, reihten sich ein, getrieben von jenem S-21-Gefühl, dass die Politik wichtige Dinge im stillen Kämmerlein entscheidet.

Jeder Politiker sollte deshalb aus der Acta-Pleite mindestens zwei Lehren ziehen: Erstens, Netzhemen gehen längst alle an, weil das Internet für viele Deutsche - und nicht mehr nur für picklige Nerds - zu einer Dimension ihres Lebensraums geworden ist. Eigentlich müsste auch der Begriff "Netzpolitik" längst passé sein. Das Netz ist de facto Querschnittsthema der Politik. Die zweite Lektion besagt, dass eine ignorante Politik locker das Zeug dazu hat, binnen kürzester Zeit mächtige Koalitionen zu schmieden, die das Zeug haben, auch Regierungen erzittern zu lassen. Konstantin von Notz, der netzpolitische Sprecher der Grünen-Bundestagsfraktion, hat schon recht, wenn er nach der Abstimmung in Straßburg sagt: "Die Menschen sind nicht mehr bereit, dass wesentliche politische Fragen, die ihr Leben betreffen, in undemokratischen Verfahren an ihnen vorbei verhandelt werden."

Es ist allerdings, und auch da gibt es kein Vertun, mitnichten so, dass Anatomie und Zukunft dieser politischen Bewegung, die Acta nun gestoppt hat, eindeutig wären. Das Netz ist ein grandioses Instrument, um schnell und effizient Aktionen und auch Protest zu organisieren. Ein Anti-Acta-Button hat man schnell auf seiner Facebook-Seite, in seinem Blog oder in seinem Twitter-Profilbild gepostet. Auch zu einer Demo kann man mit relativ wenig Aufwand gehen. Weit weniger eignet sich das Netz dazu, eine Protestbewegung zu verstetigen, ihr dauerhaft Struktur zu verleihen. Und so können Koalitionen, die die Politik gestern noch wie eine mächtige Welle aufgewirbelt haben, heute schon verebben. Als im Juni noch einmal zu einem Protesttag gegen Acta aufgerufen wurde, kamen etwa kaum noch Demonstranten.

Buh

Geht jetzt also ein mächtiges Gespenst um in Europa? Wird die Netzbewegung jetzt, da sie den Riesen Acta offiziell erlegt hat, so mächtig wie dereinst die Anti-Atomkraft- oder die Friedensbewegung? Noch ist das nicht ausgemacht, selbst wenn heute bei allen großen und kleinen Netzaktivisten beschwingt mit Club-Mate-Flaschen angestoßen werden dürfte. Umso spannender wird es sein zu beobachten, ob die Netzaktivisten in Deutschland in den kommenden Jahren tatsächlich so etwas wie eine nachhaltige Organisation hinbekommen. Die Piratenpartei könnte so etwas wie Sammelbecken und Sprachrohr der digital Interessierten werden. Ihre jüngsten Wahlerfolge sprechen dafür. Aber nicht alle Netzaktivisten sympathisieren mit den Piraten. Und jenseits der Piraten gibt es noch keine starke außerparlamentarische Organisation. Zwar haben sich Gruppen und Grüppchen gebildet, mehr oder weniger parteinah. Die "Digitale Gesellschaft", 2011 gegründet, ist sicher die bekannteste, aber nicht die einzige. Auch gibt es zu einigen Spezialthemen kompetente, an freiheitlichen Bürgerrechten orientierte Lobby-Organisationen, wie etwa irights.info zu Fragen des Urheberrechts. Aber eine halbwegs einheitliche, finanziell starke Institution fehlt noch.

Dabei ist es für jede Aktivistengruppe - ob Partei oder Lobby-Verein - unheimlich schwierig, die politisch Interessierten überhaupt zu erreichen, das Protestpotenzial verlässlich mobilisieren zu können. In rasender Geschwindigkeit ändert sich das Mediennutzungsverhalten. Selbst die Internet-Profis der Generation 25 Plus dürften nur noch schwer nachvollziehen können, wie die U18-Generation das Netz nutzt. Jener junge Netzpolitiker, jedenfalls, ist auch schon in den späten Zwanzigern. Am Ende unseres Gesprächs seufzte er. "Wir müssen dahin, wo diese Jugendlichen sind. Anders erreichen wir die gar nicht mehr. Vielleicht müssen wir auch mit Youtube-Videos experimentieren."

Spätestens nach der Acta-Klatsche im Europäischen Parlament dürfte jeder Politiker begriffen haben, dass sich auch sein Handwerk grundlegend ändert. Manche halten das sicher für gespenstisch. Buh.

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