Wut, Enttäuschung, Resignation. Die Nachricht, dass Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel als Berater für den nicht erst seit dem jüngsten Corona-Ausbruch umstrittenen Fleischfabrikanten Tönnies tätig war, löst Emotionen aus. Und es stellen sich Fragen.
Wie schafft es ein Sozialdemokrat, noch dazu ein "verdienter Genosse", sich von einem Betrieb einer Branche stattlich honorieren zu lassen, in der Arbeiter unter schlimmen Bedingungen hausen und für einen Hungerlohn schuften müssen? Wie bringt dieser Mann diesen Job damit zusammen, dass er als Wirtschaftsminister eben diese Verhältnisse als "Schande für Deutschland" bezeichnet hat und gegenüber einer "Zeit"-Journalistin äußerte: "Ich schäme mich für diese Zustände" (hier als Bezahl-Inhalt nachzulesen). Und wie egal muss einem früheren Vorsitzenden seine dahinsiechende Partei sein, damit er ihr auf diese Weise einen weiteren herben Stoß versetzt? Von der Arbeit seines Parteifreundes, Arbeitsminister Hubertus Heil, der gerade gegen die Zustände in den Schlachthöfen vorgeht, ganz zu schweigen.
Tönnies - "Zeit, dass man da kooperiert, ist vorbei"
Wer jetzt das Lied von der "Scheinheiligkeit der Sozen" anstimmt, der möge noch einmal in die Worte des NRW-Ministerpräsidenten Armin Laschet zum Fall Tönnies hineinhören - vorgetragen in der ihm eigenen, nur mühsam gebremsten rheinischen Offenheit, die ihm den Weg ins Kanzleramt verbauen könnte. "Es wird jetzt nach ordnungsbehördlichem Verhalten entschieden", hob der CDU-Mann den Finger in Richtung Tönnies. Denn: "Die Zeit, dass man da kooperiert - (...) - ist vorbei. Hier wird jetzt streng nach Recht und Gesetz verfahren." Der Umkehrschluss liegt nahe und ist angebracht: Bisher wurde hier nicht nach Recht und Gesetz verfahren. Sonst würde das ausbeuterische System bei Tönnies und Co. nicht toleriert.
Ob Gabriel, ob Laschet. Ob als Berater, der ihm bekannte Missstände zum eigenen Nutzen ignoriert, oder ob als Regierungschef, der Fünfe gerade sein lässt, um seine Bilanz aufzupolieren - auf diese oder andere Weise stützt die Politik Strukturen wie sie sich bei Tönnies und in der Fleischindustrie verfestigt haben. Der Corona-Ausbruch hat diese "Schande" nur nochmals an die Öffentlichkeit gezerrt. Und hätten sich im Kreis Gütersloh nicht Menschen ohne Bezug zu Tönnies mit dem Virus infiziert, wer weiß, ob jetzt etwas geschehen würde.
Politik verfestigt die Strukturen
Der Tönnies-Skandal ist somit also auch ein Politik-Skandal. Dass Gabriel die Vorwürfe nicht nachvollziehen kann ("Tönnies macht nichts Verbotenes", "10.000 Euro sind in der Branche kein besonders hoher Betrag", "ich bin kein Politiker mehr") unterstreicht das nur. Die oft gestellte Frage, wie solche Zustände wie in der Fleischindustrie möglich sein können, obwohl doch alle Bescheid wissen, beantwortet sich damit von selbst. Wut, Enttäuschung und Resignation sind da durchaus angebracht.