Zwei Tage nach der Vorstellung des Allparteien- Kompromisses zur Gesundheitsreform werden skeptische Stimmen und Kritik immer lauter. Bundessozialministerin Ulla Schmidt (SPD) erteilte der Forderung nach Korrekturen indes erneut eine klare Absage. "Die Kritiker hätten sich bei den Konsens-Gesprächen melden müssen. Die Reform ist von allen Parteien abgesegnet und kommt auch - so wie sie ist - zum 1. Januar 2004", sagte die Ministerin den 'Aachener Nachrichten'.
Zweifel an der angestrebten Beitragssatzsenkung von 14,4 auf 13,6 Prozent im nächsten Jahr wies Schmidt zurück. "Wir werden sie notfalls vorschreiben und haben auch nur mit festen Einspargrößen kalkuliert." Die Belastungen für Patienten und Versicherte durch die Reform bezeichnete sie als "zumutbar".
AOK glaubt nicht an Beitragssenkung
Entgegen den Versprechungen von Regierung und Opposition werden die Kassenbeiträge nach Ansicht der AOK zumindest kurzfristig nicht nennenswert sinken. "Ohne weitere Dämpfungen auf der Ausgabenseite werden die Beiträge im Schnitt eher stabil bleiben als deutlich sinken", sagte Hans Jürgen Ahrens, Chef des Bundesverbands der Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), der Zeitung 'Financial Times Deutschland'. In den Berechnungen seien die steigenden Ausgaben der Kassen in diesem Jahr noch nicht berücksichtigt, sagte Ahrens. "Wir werden zwar im nächsten Jahr um 10 Milliarden Euro entlastet, aber wir haben zugleich 7 Milliarden Euro Defizit aus dem letzten und aus diesem Jahr."
Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Michael Rogowski, warnte angesichts dieser möglichen Entwicklung vor einem "Vertrauensverlust in die Reformfähigkeit Deutschlands". Sollten die Kassenbeiträge lediglich stagnieren, drohten weitere Unternehmen ins Ausland abzuwandern.
Der AOK-Bundesverband setzt jedoch noch auf Nachbesserungen im Gesetzgebungsverfahren. Ahrens sprach auch mit der in Hannover erscheinenden 'Neuen Presse' und sagte: "Wenn die große Koalition etwas Bahnbrechendes auf den Weg gebracht hat, dann werden die Beteiligten ein Interesse haben, dass es läuft. Man wird sich nicht gegenüber allen Argumenten verschließen." In den Eckpunkten seien "in Ansätzen Wettbewerbselemente vorhanden. Sie müssen scharf gemacht werden."
Nur eine kurzfristige Lösung
Der Kompromiss ist nach Ansicht des Gesundheitsexperten Jürgen Wasem, Professor für Medizin-Management an der Universität Essen, nur eine sehr kurzfristige Lösung zur raschen Senkung der Kassenbeiträge. Die langfristigen Probleme wegen der Alterung der Bevölkerung werden nicht angepackt, sagte er den 'Lübecker Nachrichten'. "Für die Reform der Strukturen ist in dem Kompromiss zu wenig geplant", erklärte das Mitglied der 'Herzog-Kommission' der CDU. So müsste der Wettbewerb zwischen den Ärzten verstärkt werden, indem die Krankenkassen unter Umgehung der Kassenärztlichen Vereinigungen Einzelverträge mit den Medizinern abschließen dürfen.
Auch in der Union regt sich Widerstand gegen den Kompromiss. Nach Ansicht der CDU-Politikerin Hildegard Müller hat die geplante Reform "keine Langzeitperspektive". Die CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete sagte der Berliner 'tageszeitung', die angekündigten Schritte erfassten weder die Altersentwicklung noch den medizinisch- technischen Fortschritt. Durch die verlängerte Lebenserwartung und neu entwickelte Medikamente sei mit einem enormen Kostendruck zu rechnen. Hessens Sozialministerin Silke Lautenschläger (CDU) vermisste in der 'Kölnischen/Bonner Rundschau' "notwendige grundlegende Reformen" und sieht "keinen großen Wurf".

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30 Prozent Krankenkassenbeiträge für 2050 befürchtet
Der Unternehmensberater Roland Berger hält die Pläne ebenfalls für nicht ausreichend. In einem Gastbeitrag für die Tageszeitung 'Die Welt' forderte Berger eine Radikalkur. Sonst würden die Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung bis 2050 im schlimmsten Fall auf bis zu 30 Prozent ansteigen. "Auch die aktuellen Vereinbarungen zwischen Bundesregierung und Opposition reichen nicht aus, diesen Trend aufzuhalten." Berger schlug vor, dass mehr Leistungen als vorgesehen von den Versicherten finanziert werden.
Auch Thüringens Ministerpräsident Dieter Althaus (CDU) kritisierte die geplante Gesundheitsreform in der 'Bild'-Zeitung als nicht weitgehend genug. Die Reform stoppe nur "vorübergehend den weiteren Anstieg des Krankenversicherungsbeitrages". Er forderte weitergehende Schritte zur Neugestaltung des Gesundheitswesens: "Ich persönlich bevorzuge eine Art Kasko-System mit verschiedenen Grundsicherungen, die verpflichtend sind. Aber alles andere wird nach eigener Verantwortung mit Eigenbeiträgen versichert."
"Das darf nicht weitergehen"
Die SPD-Gesundheitspolitikerin Marlies Volkmer forderte ihre Partei auf, nach dem Zahnersatz nicht noch weitere Ausgliederungen medizinisch notwendiger Leistungen aus dem Kassenkatalog zuzulassen. "Es wird eine ganz wichtige Aufgabe der SPD sein, hier wirklich einen Damm einzubauen. Das darf nicht weitergehen", sagte Volkmer der in Dresden erscheinenden 'Sächsischen Zeitung'. Sie kritisierte die Herausnahme nichtverschreibungspflichtiger Medikamente aus der Kassen-Erstattung. Die Ärzte würde auf verschreibungspflichtige Medikamente ausweichen. Es wäre viel besser gewesen, die Positivliste durchzubekommen.