Eigentlich wäre längst eine Entschuldigung fällig. Für diesen Wahnsinn. Für irre Begriffe wie Morbi-RSA und wirre Grafiken aus tausendundeinem Pfeil. Für die gestohlene Zeit, in der wir versucht haben, all das Wortgeklingel zu verstehen. Für das gebrochene Versprechen, die Große Koalition werde Großes leisten. Vergessen Sie's. Es gibt keine Gesundheitsreform. Es hat sie nie gegeben. Es gibt nur eine Attrappe mit sehr viel Nichts dahinter - wie bei Potemkin.
War es nicht so, dass uns jahrelang erzählt wurde, wir bräuchten dringend eine Reform, weil wir immer älter werden? Weil der medizinische Fortschritt alles teurer mache? Weil steigende Beiträge auf die Lohnnebenkosten drücken, hohe Lohnnebenkosten Arbeitsplätze vernichten und die übrig bleibenden Jobs darum mit noch höheren Beiträgen belastet werden? War es nicht so, dass wir das irgendwann alle verstanden hatten? Es hieß, es sei sehr dringend. Es hieß, das Ende des Sozialstaates drohe. Und jetzt soll ihn ein großes Nichts gleich für Jahrzehnte retten?
Warum hatten sich die Großreformer gleich noch getroffen?
Die Großreformer scheinen vergessen zu haben, warum sie sich im Frühling zu ersten Verhandlungen trafen. Nein, sie saßen dort nicht gemütlich um den Tisch, um irgendeinen Kompromiss aus den unvereinbaren Konzepten der CDU-Kopfpauschale und der SPD-Bürgerversicherung zu schmieden. Und nein, sie sollten auch kein Modell erfinden, das beiden Seiten die Chance lässt, irgendwann doch noch das persönliche Lieblingsmodell einzuführen. Sie saßen dort in großer Runde, um die noch größeren Probleme des Gesundheitssystems zu lösen. Das war die Aufgabe. Sie sind daran gescheitert. Sie haben sich in taktischen Winkelzügen verloren. Sie haben sich einer ernsthaften Lösung einfach verweigert.
Diese angebliche Gesundheitsreform löst kein einziges Problem. Sie lässt weiter die Kosten explodieren. Sie entlastet auch nicht die Lohnnebenkosten. Weder hält sie die Beitragssätze stabil, noch ist sie in der Lage, sie zu senken. Im Gegenteil: Schon bald könnten sie von 14,2 auf 15,7 Prozent steigen. Die wachsenden Lasten werden nicht auf mehr Schultern verteilt, denn die privaten Kassen müssen sich auch künftig nicht an der solidarischen Finanzierung beteiligen. Und auch wenn die Reform den Einstieg in die Steuerfinanzierung auf dem Papier verspricht - zunächst passiert das glatte Gegenteil. Der bisherige Steuerzuschuss von 4,2 Milliarden Euro sinkt auf 1,5 Milliarden. Das ist wie Wischmopp gegen Tsunami.
Was genau will die große Koalition eigentlich?
Seit dem Start der großen Koalition hat die Regierung in der Gesundheitspolitik nicht mehr zustande gebracht als ominöse Eckpunkte. Minimaler Nenner, vage formuliert. Vergangene Woche zeigte sich dann, was geschieht, wenn Konkretes aus dem Ministerium sickert. Plötzlich hieß es, dass die privaten Kassen um bis zu 37 Prozent teurer würden. Dass sie Basispakete für jedermann anbieten müssten. Dass es ihnen doch noch an den Kragen ginge. Es folgte: ein Aufschrei. Alarmstufe rot. Und das Dementi.
Einzig der Gesundheitsfonds, das angebliche Herzstück der Reform, nimmt schon fast konkrete Züge an. Dabei ist auch dieser neue Kassenwart weit entfernt vom großen Wurf. Bislang konnte niemand recht erklären, wie ausgerechnet eine zentrale Inkassostelle das System revolutioniert. Künftig soll der Fonds die Beiträge aller Versicherten einziehen und sie dann als Einheitspauschale an die Krankenkassen weiterreichen. Die Kassen mit besonders vielen Kranken bekommen einen Ausgleich. Wettbewerb findet also nicht mehr anhand unterschiedlicher Beitragssätze statt, denn die werden demnächst vom Ministerium festgelegt. Wettbewerb soll künftig durch die "kleine Kopfpauschale" herrschen. Kassen, die mit dem Fonds-Geld nicht auskommen, müssen von ihren Mitgliedern diesen Zusatzbeitrag verlangen - und laufen dann Gefahr, sie an günstigere Konkurrenten zu verlieren. Die könnten sogar einen Bonus zahlen. Man hofft, auf diese Weise die Kassen zu mehr Wirtschaftlichkeit zu zwingen. So weit die Theorie.
Was genau führt zu mehr Wettbewerb?
In der Praxis stellt sich die Frage, wieso ein zusätzlich eingeforderter Beitrag, ausgedrückt in Cent und Euro, zu mehr Wettbewerb führen soll als ein Aufschlag in Prozent. Denn schon heute gibt es Beitragsunterschiede von bis zu 2,5 Prozentpunkten - und trotzdem wechseln nur fünf von hundert Versicherten pro Jahr die Kasse. Warum sollte sich das ändern? Erst recht, wenn auch noch festgeschrieben wird, dass kein Mitglied mehr als ein Prozent seines Einkommens als "kleine Kopfpauschale" zu zahlen braucht. Die AOK hat gerade vorgerechnet: Die maximal draufzuzahlende Summe läge bei all ihren Versicherten unter 20 Euro, weil die Mitglieder so wenig verdienen, dass schon bei dieser Summe ihre Belastungsgrenze erreicht wäre. Doch woher soll dann die AOK mit ihren vielen Geringverdienern, Arbeitslosen und Alten ihr Geld bekommen?
Dies ist nur das jüngste Argument im Kampf der Krankenkassen gegen den Gesundheitsfonds. Eine quälende Abwehrschlacht um Macht und Pfründe hat begonnen. Der neue Fonds stellt das System von den Füßen auf den Kopf. Ein System, an dem 250 Krankenkassen beteiligt sind, 70 Millionen Versicherte und Hunderttausende von Arbeitgebern. Ein System, das jährlich knapp 146 Milliarden hin und her verschiebt. Bisher ziehen 25 000 der 150000 Kassenangestellten die Beiträge der Mitglieder ein. Für den neuen Fonds müssen Mitarbeiter versetzt und geschult, Software programmiert und Patienten beruhigt werden. Gleichzeitig werden die Kassen keinen Mitarbeiter entlassen wollen. Im Gegenteil: Sie werden neue Aufgaben für sie suchen. Irgendwas wird sich schon finden. Und irgendwer wird diese doppelte Struktur schon zahlen. Das alles klingt verdammt nach Hartz hoch vier.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Und wofür das alles? Für ein staatlich reguliertes Gesundheitssystem mit einem staatlich festgesetzten Beitrag, einer staatlich begrenzten Kopfpauschale und einem staatlich gekappten Bonus (denn der soll auf schlappe zehn Euro im Monat begrenzt werden). Das ist kein Wettbewerb. Das ist wie Schwimmen mit Betonschuh.
Wofür braucht Schmidt den Gesundheitsfond?
Nicht einmal Ulla Schmidt verteidigt den Gesundheitsfonds mit Verve - und das will schon was heißen. Erst kürzlich hat die Ministerin freimütig zugegeben, dass man ihn eigentlich nicht braucht. Sie hat das nur anders ausgedrückt - wie immer komplizierter. Sie hat gesagt, dass man den Fonds nur deshalb einführen müsse, weil die Union einem verfeinerten Finanzausgleich zwischen den Kassen sonst niemals ihr Okay gegeben hätte. Nein, das muss niemand verstehen. Die Ministerin windet sich, weil sie das Simple nicht zu sagen wagt: Diesen Fonds braucht kein Mensch und kein System. Man könnte ihn getrost vergessen.
In Wahrheit gibt es für das Zustandekommen der Reformattrappe viel schlichtere Erklärungen. In der Fonds-Begründungslyrik tauchen auffallend oft die Wörter "künftig", "bald" und "später" auf. Der Fonds ist gut, sagt die SPD, weil man später die Privatpatienten zur Kassen bitten kann. Weil sich künftig dem System leichter Steuergelder zuführen lassen und irgendwann auch Beiträge aus diversen Miet- und Kapitaleinkünften. Künftig, später - nur eben nicht jetzt. Und die Union kann sich zumindest damit brüsten, der SPD die "kleine Kopfpauschale" abgetrotzt zu haben. Und wer weiß, später könnte man den Einheitsbeitrag senken und die kleine Kopfpauschale kräftig wachsen lassen. Später - nur eben nicht jetzt.
Und das ist wohl der eigentliche Vorteil dieses neuen Kassenwarts. Man stellt ihn ein, auf dass er alles in Bewegung halte, und sorgt im Übrigen dafür, dass für beide Partner alles offen bleibt. So gesehen ist die Gesundheitsreform nur ein schlechter Bluff. Man tut so, als würde niemand merken, dass man nur so tut, als würde man was tun. Die Politik hält sich die Augen zu und ruft "Keiner kann mich finden!" Und die Bürger reißen ungläubig die Augen auf und suchen weiter nach dem Fünkchen Sinn. Laut Forsa wollen lediglich neun Prozent, dass diese Reform wie beschlossen umgesetzt wird, 78 Prozent fordern einen neuen Anlauf.
Wann genau startet der Fonds?
Doch vielleicht gibt es für all diese Skeptiker noch Hoffnung. Denn ursprünglich hieß es, der Fonds solle Anfang 2008 die Arbeit aufnehmen. Dann war die Rede von Mitte 2008. Voraussetzung für den Fonds ist nämlich, dass alle Kassen frei von Schulden sind - und davon sind viele noch reichlich weit entfernt. 3,7 Milliarden Euro soll das gesamte Defizit betragen. Allzu großen Elan sollte man beim Schuldenabbau von den Kassen aber nicht erwarten. Stattdessen tun auch sie, was alle anderen längst schon machen: Sie schielen auf das Jahr 2009. Denn dann ist wieder Wahlkampf.
Dann spricht niemand mehr vom Fonds. Die Union wird für die Kopfpauschale werben - diesmal ohne Professor aus Heidelberg, dafür mit mehr Sozialausgleich. Die SPD wird ihre Bürgerversicherung aus dem Keller holen - diesmal ohne Schröder, dafür mit noch mehr Gerechtigkeit. Das wird ein hübsches Déjà-vu. Und beide werden mit Fingern aufeinander zeigen und laut rufen: Ohne Steuererhöhnung lässt sich das nie im Leben finanzieren! Das Traurige daran wird sein: Beide haben Recht.