Der Sozialstaat sei "eine zivilisatorische Errungenschaft", sagt Christian Lindner. Es gehe in der Sozialpolitik um einen "fairen Interessenausgleich" zwischen Leistungsempfängern und Gebern. Seine Partei wolle einen "fairen Sozialstaat".
Nanu? Der sanfte Ton des FDP-Generalsekretärs könnte sich kaum stärker von der polemischen Schärfe unterscheiden, mit der sein Parteichef Guido Westerwelle seit Wochen die Hartz IV-Debatte befeuert hat - mit Reizwörtern wie "spätrömische Dekadenz" oder "anstrengungsloser Wohlstand". Niemand weiß besser als Lindner, wie sehr das Ansehen seiner Partei darunter gelitten hat. Seit der Bundestagswahl hat sich die Wählergunst für die Liberalen zeitweise halbiert.
An Schröders Agenda 2010 anknüpfen
Jetzt ist die FDP im Begriff, ihre Strategie zu ändern: weg vom Gepolter, hin zur Sachlichkeit. Mit dieser Kehrtwende nach so viel Aufregung und fruchtlosen Scheindebatten um das Westerwelle-Mantra "Leistung muss sich wieder lohnen", möchte die FDP verdeutlichen, dass sie auch inhaltlich etwas anzubieten hat.
Am Donnerstag meldeten sich Generalsekretär Lindner und drei weitere Sozialpolitiker der FDP betont nüchtern zu Wort, mit einem groß angelegten Symposium und einem Positionspapier, das einen liberalen Neuanfang in der Sozialpolitik fordert und an Schröders Agenda 2010 anknüpft, allerdings auf schärfere Sanktionen und größere Einschnitte bei Hartz IV verzichtet.
Zuverdienstmöglichkeiten im Zentrum
Im Mittelpunkt des liberalen Strategiepapiers "Aufstiegschancen schaffen - auf dem Weg zum fairen Sozialstaat" stehen die Zuverdienstmöglichkeiten bei Hartz IV. "Das bestehende System" gewähre den Betroffenen gerade einmal ein Taschengeld und missachte ihre Eigeninitiative, "weil Arbeit sich für sie nicht lohnt."
Das will die FDP ändern, indem sie den "Anreiz zur Arbeitsaufnahme bei zunehmenden Einkommen" verstärkt. In dem Thesenpapier werden zwei Rechnungen aufgemacht, nach denen der Zuverdienst zwischen 400 und 1000 Euro in Zukunft wesentlich attraktiver wäre, weil mehr Geld in der Haushaltskasse der Leistungsempfänger landen würde.
Bei der ersten Variante können Hartz IV-Empfänger die ersten 100 Euro Zuverdienst wie bisher komplett behalten. Von allen weiteren Zuverdiensten bis zu einer Grenze von 1000 Euro bleiben immerhin noch 40 Prozent. Die zweite Variante ist etwas komplizierter, dafür aber "annähernd kostenneutral", wie es in dem Positionspapier heißt. Hierbei soll der Freibetrag auf 40 Euro reduziert und bis 200 Euro komplett verrechnet werden. Von 200 bis 400 Euro bleiben dem Jobber dann 40 Prozent und von 400 bis 1000 Euro Lohn darf er 50 Prozent behalten.
Das Ergebnis dieser Abstufung: Bei einer Arbeit, die zwischen 400 und 1000 Euro entlohnt wird, bleibt dem Hartz-IV-Empfänger wesentlich mehr Geld übrig. Das Kalkül der Liberalen: Wer Jobs in dieser Lohnkategorie annähme, fände am schnellsten wieder ins reguläre Arbeitsleben zurück.

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Gemischte Reaktionen
Tatsächlich könnten mit dieser Regelung vermutlich viele Zuverdiener motiviert werden, ihr Einkommen weiter auszubauen und sich so schrittweise einer regulären Beschäftigung anzunähern. Andererseits könnte das Konzept für einen Anstieg von Niedriglohnjobs sorgen. Und diese wiederum könnten reguläre Beschäftigungsverhältnisse verdrängen.
Neben dem zentralen Punkt Nebenverdienst will die FDP auch andere Aspekte von Hartz IV verändern. So sollen die Bedürfnisse von Kindern teilweise durch Sachleistungen, beispielsweise durch Gutscheine für kulturelle Angebote, abgedeckt werden. Die Wohnkosten will die FDP pauschalieren, allerdings unter Berücksichtigung von regionalen Unterschieden. Ansonsten wird genannt, was ohnehin bereits in der Koalition vereinbart ist: das Schonvermögen zu erhöhen und eigene Immobilien unangetastet zu lassen, wenn Menschen in Hartz IV fallen. Noch diskutieren wollen die Liberalen, ob zusammenlebenden Partnern jeweils der volle Regelsatz ausbezahlt werden soll - um die Tricksereien zu beenden.
Die Meinungen zu den sozialpolitischen Reformvorhaben der FDP sind gemischt. Und so rief das Thesenpapier der FDP dann auch unterschiedliche Reaktionen hervor. Ulrich Schneider, Geschäftsführer des paritätischen Wohlfahrtsverbandes, lobte als Teilnehmer des Symposiums grundsätzlich die Versachlichung der Debatte durch die FDP, betonte aber auch, dass Zuverdienst mit geregelten Mindestlöhnen einhergehen müsse, sonst komme es zu Lohndumping. Andere Punkte des Papiers, wie die Pauschalierung von Wohnkosten lehnt Schneider generell ab. "Das führt zu Ghettoisierung", so Schneider im Gespräch mit stern.de.
Hans-Werner Sinn, Chef des Ifo-Instituts, sprach sich auf dem Symposium der Liberalen zwar für Lohnzuschüsse aus, plädierte aber für die flächendeckende Umwandlung der Hartz IV-Bezüge in Ein-Euro-Jobs - was einer generellen Arbeitspflicht gleich käme. Letzteres lehnt die FDP nach wie vor ab, weil es die Privatwirtschaft gefährde. Wolfgang Clement, der ebenfalls an der Veranstaltung teilnahm, verteidigte die Hartz-Gesetze, die er als damaliger SPD-Wirtschaftsminister mitverantwortet hatte, und sprach sich dafür aus, mehr in Bildung zu investieren, um die Kosten im Sozialsystem auf lange Sicht zu senken. "Bildungspolitik ist heute nach wie vor die beste Sozialpolitik", so Clement.
Das "soziale Rouge" der FDP
Scharfe Kritik an den Thesen der FDP kam indes von Seiten der Opposition. SPD-Fraktionsvizechef Hubertus Heil nannte die Vorschläge der Liberalen widersprüchlich. "Das ist soziales Rouge auf den kalten wirtschaftsradikalen Wangen der FDP". So führe der Ausbau von Zuverdienstmöglichkeiten zu Lohndumping. Eine wirkliche Alternative zu Hartz IV sei hingegen die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns. Die Generalsekretärin der SPD, Andrea Nahles, sprach von einem "Generalangriff auf die Würde der Menschen und ihrer Arbeit". Mit ihrer "Niedriglohnorgie" verabschiede sich die FDP endgültig von der sozialen Markwirtschaft.
Am Ende kann keine Untersuchung, Hochrechnung oder Statistik belegen, ob die Reformideen der Liberalen Wirkung zeigen könnten. Allein die Zahl derer, die sich in einer Kombination aus Hartz IV und Zuverdienst einrichten, und jener, die den Sprung in einen Vollzeitjob schaffen, könnten darüber entscheiden. Die CDU hat sich bislang noch nicht zu dem Konzept geäußert.