Im großen Saal des Mannheimer Congress Centrums gab es riesigen Jubel: sechs Minuten lang feierten die Delegierten des FDP-Bundesparteitages heute stehend und lautstark mit rhythmischem Klatschen ihren Guido Westerwelle. Und im Überschwang der Freude kürten sie ihn gleich darauf zum Abschluss des Parteitages bei nur zwei Gegenstimmen zum ersten Kanzlerkandidaten in der Geschichte der FDP.
Westerwelle hatte seine Parteifreunde mit einer allgemein als glänzend empfundenen Rede auf die Entscheidung eingestimmt. Fast eine Regierungserklärung hatte er abgegeben, zu nahezu allen Feldern der Politik: Von der Steuer über die Bildung und Familie bis zur Lage im Nahen Osten. Und er hatte sich gegen Kritik vom politischen Gegner verwahrt, die FDP sei mit 18-Prozent-Ziel und Kanzlerkandidat inzwischen zu einer »Spaß-Partei« verkommen.
»Das Ziel, Deutschland zu erneuern, ist ernst, der Weg dahin wird mit Fröhlichkeit beschritten«, sagte der Vorsitzende unter dem rauschenden Beifall seiner Parteifreunde. Er sei kein Trauerkloß: »Ich bleibe wie ich bin«. Dann wandte er sich zum Schluss dem Thema Kanzlerkandidatur zu und räumte ein, dass er diesen Vorschlag von NRW-FDP-Chef Jürgen Möllemann vor einem Jahr als Übermut abgelehnt habe.
Die FDP sei aber inzwischen erheblich vorangekommen, und es wäre »Kleinmut«, dies heute nicht zu beschließen. Und er verglich die Bundestagswahl mit einer Olympiade, die doch langweilig wäre, wenn nur sichere Anwärter auf eine Goldmedaille antreten würden. »Ich bitte um Ihren Auftrag, als Kanzlerkandidat der FDP in die Bundestagswahl für Sie zu gehen«, appellierte er an die Delegierten.
Genscher kürte Westerwelle
Die Entscheidung für die Kanzlerkandidatur, die in der Partei zunächst sehr umstritten war und von vielen als übermütige Lachnummer angesehen wurde, hatte die FDP-Spitze für Mannheim sorgfältig vorbereitet. Obwohl er sich in Wahrheit schon seit Tagen dafür entscheiden hatte, behauptete Westerwelle bis heute immer wieder, dass er noch nachdenken müsse. Er wollte Diskussionen zur falschen Zeit vermeiden. Und es gelang der Parteiführung auch, dieses Thema aus den Parteitagsberatungen der ersten beiden Tagen herauszuhalten.
Erst am Sonntagmorgen trat der Bundesvorstand in Mannheim zu einer Sondersitzung zusammen und nominierte Westerwelle offiziell als Kanzlerkandidaten. Der in der Partei allgemein hoch angesehene Ehrenvorsitzende Hans-Dietrich Genscher übernahm es, den Antrag im Parteitag einzubringen - mit einer geschickten, viel beklatschten Rede. Es sei das gute Recht der FDP, sich für einen eigenen Kandidaten für das Amt des Bundeskanzlers zu entscheiden, um ebenbürtig im Wahlkampf aufzutreten, sagte Genscher. »Wo steht es geschrieben, dass dieses Recht nur CDU/CSU und Sozialdemokraten zusteht?«, fragte er. »Im übrigen gibt es auch die Gefahr, dass es nicht klappt«, sagte Genscher unter Gelächter der Delegierten. Dies sei aber bei den Sozialdemokraten schon neun Mal und bei der CDU/CSU fünf Mal der Fall gewesen.
Auf dem Mannheimer Parteitag zeigte sich erneut, dass die Freidemokraten nach den letzten Wahlsiegen vor Selbstbewusstsein strotzen und ganz fest mit dem Wiedereinzug in die Bundesregierung mit CDU/CSU oder SPD im Herbst rechnen. Bei den letzten Wahlen kehrten sie in drei Parlamente zurück: In Hamburg mit 5,1 Prozent, dann in Berlin mit 9,9 Prozent und in Sachsen-Anhalt mit vergleichsweise sensationellen 13,3 Prozent. Westerwelles Führung ist unangefochten, dies bestätigte nach Ansicht von Beobachtern erneut das einhellige Ergebnis zur Kanzlerkandidatur. Dass sie den Kanzler nicht wirklich stellen werden, ist den Liberalen bewusst: Westerwelle soll aber gegen Kanzler Gerhard Schröder und Unions- Kandidat Edmund Stoiber (CSU) »auf gleicher Augenhöhe« antreten.
Anders ist es mit dem ebenfalls von Möllemann erfundenen Wahlziel 18 Prozent. Auch dies wurde anfangs in der Partei nur als symbolische Richtungsanzeige angesehen. Nach dem 13,3-Prozent-Coup in Sachsen Anhalt rechnen inzwischen immer mehr Liberale ernsthaft damit, dass bei der Bundestagswahl 18 Prozent möglich seien. Ob der Kanzlerkandidat dabei hilfreich ist, wir sich nun erweisen.

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Klaus D. Drechsler, dpa