Ein Hase hoppelt über die Hauptstraße, hinter einem Maschendrahtzaun schnattert ein Rudel Gänse. Das Auto rumpelt über Kopfsteinpflaster, endlich zeigt sich das Ortsschild: Grabow, 6100 Einwohner, ein typisches Nest in Mecklenburg-Vorpommern.
Auch Grabow soll von den Segnungen der großen Berliner Politik profitieren. Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen hat ein Bildungspaket für Kinder aus Hartz-IV-Haushalten geschnürt, das Kabinett verabschiedete es an diesem Mittwoch. Zehn Euro pro Kind und Monat für den Sportverein, einen Malkurs an der Volkshochschule oder Musikunterricht. 30 Euro für einen Ganztagsausflug. 100 Euro für Schulmaterial, bei Bedarf Nachhilfe, Zuschüsse für ein warmes Mittagessen in einer Ganztagsschule oder im Kindergarten. Klingt wunderbar. Nur: Existieren diese Angebote in der Provinz überhaupt? Und wie sollen sie abgerechnet werden, wenn es kein Bargeld gibt, sondern Gutscheine oder eine Bildungschipkarte, so wie es von der Leyen plant? "Es sollen sich die um die Kinder kümmern, die daran interessiert sind, dass die Leistung zum Kind kommt", sagt die Ministerin.
Der "Jugendkeller"
"Die" - damit ist in Grabow zum Beispiel Stefan Sternberg gemeint, 26 Jahre alt, ein Überzeugungstäter mit strubbelig geschnittenen blonden Haaren. Sternberg ist Vorsitzender des Sozialausschusses der Stadt Grabow, er kämpft darum, seine Stadt attraktiver zu machen. Sein bislang größter Erfolg: Eine leer stehende ehemalige Schule wurde zum Kulturtreff umgerüstet. Das mit Linoleum ausgelegte Obergeschoss ist nun "Mehrzweckraum", das Erdgeschoss beherbergt eine kleine Bibliothek, aber Sternberg läuft am liebsten mit schnellen Schritten die Treppe herunter, um den "Jugendkeller" zu zeigen. Darauf ist er besonders stolz. Darin: ein Billardtisch, eine Tischtennisplatte und drei alte Sofas.
Ende September saß Sternberg mit den 13 Bürgermeistern der umliegenden Dörfer zusammen und beriet über das neue Bildungspaket und die geplante Chipkarte. "Alles nicht umsetzbar", stöhnten die Kollegen. "Was die sich wieder in Berlin ausdenken." Das sieht Sternberg genauso. Er will aber auch nicht verdrießlich werden. Was die Politik nicht schafft, schafft die Bürgergemeinschaft, an diesem Gedanken hält sich Sternberg fest. "Hier hilft sich erstmal jeder. Man achtet mehr aufeinander", sagt der junge Sozialdemokrat. Er hat selbst schon zwei Kinder.
Sit-in bei der Schulsekretärin
Grabow hat keine Ganztagsschule, keine Volkshochschule, keine Musikschule - und Grabow ist schon die größte Stadt im näheren Umkreis. Wer ein paar Kilometer entfernt wohnt, in Gorlosen vielleicht, hält selbst einen "Jungendkeller" schon für Luxus. Die Lokalpolitiker landauf, landab, kennen die Situation. "Unter 100.000 Einwohnern ist das Bildungspaket nicht zu realisieren - es fehlt einfach an Angeboten", sagt Karl-Ludwig Böttcher, Vorsitzender des Deutschen Städte- und Gemeindebundes Brandenburg zu stern.de. Es sei unmöglich, Gerechtigkeit zwischen Stadt- und Landbevölkerung herzustellen. SPD und Gewerkschaften fordern daher, erstmal die soziale Infrastruktur auszubauen. Doch woher nehmen und nicht stehlen? Die Kommunen sind knapp bei Kasse. Sie eröffnen keine Bäder, Busstrecken und Museen. Sie schließen sie.
In Grabow könnten rund zehn Prozent der 3200 Haushalte vom Bildungspaket für Kinder aus Hartz-IV-Familien profitieren. Nachhilfe immerhin ist möglich. Vor Ort leben zwei pensionierte Lehrer, die gerne ein bisschen nachhelfen. Glück für die Grabower Kinder, Pech für die Kinder aus den umliegenden Dörfern. Der Bus, der sie zur Kita und zur Schule nach Grabow bringt, fährt zwei Mal am Tag. Vor der Schule und zehn Minuten nach Schulschluss. Wer den Bus verpasst, landet im Büro der Schulsekretärin. "Ich kann die kleinen Mäuse doch nicht draußen stehen lassen", sagt sie. Das blonde Mädchen, das heute an dem kleinen viereckigen Tisch neben dem Schreibtisch sitzt, nimmt sich eine Apfelspalte vom blauen Porzellanteller. Dazu gibt's ein paar Kekse und Saft. Bis die Drittklässlerin eine Stunde später abgeholt wird, hat sie zusammen mit der Sekretärin schon die Deutschhausaufgaben geschafft.
"Ziehen Sie weg!"
Wer wissen will, was sonst noch so geht, schaut in den großen Glaskasten vor dem Kulturtreff. Dort hängt ein gelber Zettel, der Tagesfahrten in den Herbstferien anpreist. Für 15 Euro geht es in die Eishalle, das Erlebnisbad oder in eine Kletterhalle, alles Ziele in größeren Städten weit weg von Grabow. "In unserer Jugendgruppe sind vier Kinder aus Hartz-IV Familien. Sie fahren dieses Mal wieder nicht mit", sagt Schulsozialarbeiterin Sabine Wendt. Sie hofft, dass sich das mit dem Bildungspaket ändert. Aber eine Chipkarte zum Abbuchen dieser Leistungen? Niemand hat bislang die Lesegeräte dafür, die beiden pensionierten Nachhilfe-Lehrer schon gar nicht. Die Alternative, nämlich die Leistung über die Eingabe eines Codes auf speziellen Internetseiten abzurechnen, ist nicht weniger schwierig. Viele Menschen in Grabow und Umgebung wählen sich mangels DSL-Anschlüssen noch mit dem Modem ein. Als Sandra Borchert, Hausfrau in Gorlosen, bei einem Internetprovider anrief, um sich nach DSL zu erkundigen, riet ihr der Call-Center-Agent: "Ziehen Sie weg aus Gorlosen."
Sandra Borchert, Mutter von acht Kindern, bezieht kein Hartz-IV. Ihr Mann verdient als Fütterer auf einer Rinderzucht gerade so viel, dass die Familie über die Runden kommt. Dennoch gehen sie regelmäßig zur Kleiderkammer. Ein Sack, ein Euro. Zur Tafel gehen sie nicht mehr. "Wir mussten einfach zu viel wegschmeißen, weil es schon schimmlig war", sagt die gelernte Hauswirtschafterin. Das größte Problem für Sandra Borchert ist sind die Transportkosten. Bei Ebay hat sie nach einem Moped für ihre 15-jährige Tochter gesucht, damit sie aus Gorlosen auch mal zu Freunden und in die 20 Kilometer entfernte Kreisstadt fahren kann. Noch ist unklar, ob sich die Familie die Kosten leisten kann. Wenn nicht, muss die Mutter die Tochter eben mit dem Auto fahren. Und dann die Söhne. Und dann die andere Tochter. Der eine will zum Sport, die andere zum Musikunterricht. "Ich muss oft überlegen - kaufe ich ein Brot oder verfahre ich den Sprit", sagt Sandra Borchert.
Bus? Sprit?
Peggy Weiß und ihr Mann haben Hartz-IV beantragt, beide sind arbeitslos, sie leben in Balow, eine Viertelstunde mit dem Auto von Grabow entfernt. Sie haben sieben Kinder, das achte ist unterwegs. Sie haben ein Auto, noch. Aber Geld für den Bus oder Sprit sind im Bildungspaket nicht drin. Was tun? Peggy Weiß zuckt mit den Schultern.
Berlin ist weit weg.