Es ist neun Uhr an einem sonnigen Morgen. "Hier stehen wir goldrichtig", sagt Ralf Herrmann bestimmt. "Hier müssen die Leute vorbei, die wir erreichen wollen", sagt er. "Hier", das ist der Vorplatz der Arbeitsagentur Gelsenkirchen. Hier müssen sie tatsächlich alle vorbei, die Hartz-IV-Empfänger der Stadt. "Wir", das sind Ralf Herrmann und Ralph Geiling. Sie sind Landtags-Kandidaten der WASG - der Partei "Arbeit und soziale Gerechtigkeit - die Wahlalternative" - und sie sind Hartz-IV-Empfänger. Selbst für Gelsenkirchen ist das neu: "Die Stadt hat noch nie zwei arbeitslose Kandidaten gehabt", sagt Herrmann. "Das ist jetzt vorbei."
Tag für Tag vor der Arbeitsagentur
Seit drei Wochen stehen sie nun hier. Jeden Morgen, Werktag für Werktag, mit ihrem kleinen Stand, den Flugblättern und den vier oder fünf Helfern in den T-Shirts in Orange, der Parteifarbe. "Mein großes Ziel ist es, für diese Menschen, für diese Arbeitslosen, eine Lobby zu schaffen", sagt Herrmann. "Im Endeffekt," fügt er hinzu. Das macht er oft. Die WASG-Kandidaten locken ihre Klientel mit Flugblättern und Hilfestellung. Sie geben Auskunft, geben Tipps, wie man wann welches Formular anfordern sollte, und wann man zu einem anderen Amt gehen muss. Dieses Geschäft kennen sie.
Geiling, eigentlich technischer Zeichner, ist seit rund zehn Jahren ohne festen Job. Irgendwann hat er zum Steuerfachgehilfen umgeschult. Als er gemerkt habe, dass Arbeitgeber für diesen Job lieber Frauen einstellen, sei es zu spät gewesen, sagt er. Jetzt will ihn keiner mehr. Einen kleinen Betrieb für PC-Reparaturen hat er angemeldet. Aber der läuft so schlecht, dass zum Leben nur das Arbeitslosengeld II bleibt. 345 Euro im Monat plus Wohngeld plus Heizkosten plus Versicherung. Jetzt ist er WASG-Kandidat für den Wahlkreis 74, Gelsenkirchen I. Herrmann, Kandidat im Wahlkreis 75, Gelsenkirchen II, war in seinem früheren Leben Lackierer, später hat er bei Holzmann gearbeitet. Seit sieben Jahren ist auch er ohne Job. "Ich bin im siebten Jahr", sagt er. Das klingt wie nach einer Krankheit. Mit seiner Lebensgefährtin und deren Tochter bildet er eine "Bedarfsgemeinschaft".
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WASG liegt landesweit bei zwei Prozent
Echte Chancen auf einen Wahlerfolg haben die beiden kaum. Landesweit liegt ihre Partei in fast allen Umfragen bei schlappen zwei Prozent - es wäre ein Wunder, wenn auch nur einer der beiden einen Wahlkreis erobert könnte. Die Mandate werden hier traditionell von der SPD gewonnen. Und dennoch: Der Wahlkampf der beiden verrät viel über jene ominöse WASG, mit der auch der ewige SPD-Kritiker Oskar Lafontaine kokettiert. Er verrät viel über die Stadt Gelsenkirchen - und nicht zuletzt über den verzweifelten Kampf gegen den Fluch der Arbeitslosigkeit.
Herrmann gründete den Kreisverband
Von der Arbeitsagentur in die große Politik? Von Gelsenkirchen nach Düsseldorf? Völlig kalt lässt die neue Mission keinen der beiden WASG-Kandidaten. Wenn Herrmann sich mit seiner blauen Ballonseiden-Jacke, der Jeans und dem roten, abgewetzen Fleece-Pulli vor der Handkamera einer Schülergruppe aufstellen kann, wenn er die Jugend zum politischen Engagement aufruft, dann schwillt dem 43-Jährigen stolz die Brust. Und auch Geiling, der schmächtigere der beiden, spricht mit großer Ehrfurcht von der Kandidatur. Es scheint ein gewaltiger Schritt zu sein - in ihrer beider Leben.
Herrmann war es, der ihnen die ganze Geschichte eingebrockt hat. Sicher, bei den Montagsdemos gegen Hartz IV hatten sie beide mitgemacht, aber Herrmann war es dann, der im Januar dieses Jahres zeitgleich mit der bundesweiten Gründung der WASG die Gelsenkirchener Dependance ins Leben rief. Die Initiatoren nahmen der SPD die Agenda 2010 so übel, dass sie zur Abspaltung bereit waren. Herrmann, der damals parteilos war, war das nur Recht. 40 Mitglieder hat die WASG in Gelsenkirchen mittlerweile, in ganz NRW sollen es über 1200 sein, bundesweit sogar 7000. Schon im Februar wurden Herrmann und Giering als Kandidaten nominiert.
Gelsenkirchen ist Hartz-IV-Town
Gelsenkirchen ist Hartz-IV-Town. An sich müssten die Menschen den Möchtegern-Helden in Orange in Scharen hinterherlaufen. Über 20.000 "Bedarfsgemeinschaften" gibt es in der Stadt - Singles, Partner, Familien, die am Tropf des Arbeitslosengeldes II hängen. Insgesamt leben hier 40.000 Menschen von den 345 Euro und den Zuschüssen - von rund 270.000 Einwohnern insgesamt. Im April lag die Arbeitslosenquote bei 22 Prozent, nur in manchen Regionen Ostdeutschlands ist das schlimmer. Im Westen ist Gelsenkirchen ganz unten. Hoffnung auf eine baldige Besserung gibt es kaum.

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Hoffnung auf Besserung gibt es wenig. Selbst wenn das Integrationscenter für Arbeit, das Arbeitsagentur und Stadt gegründet haben, optimal funktionieren sollte - neue Jobs dürften kaum entstehen. Die Infrastruktur ist schlecht, die Straßen haben Schlaglöcher, die Menschen ziehen weg. Die Kaufkraft sinkt, die Zahl der Billigstläden in der Innenstadt explodiert. In den Stadtvierteln Schalke oder Bismarck stehen ganze Häuserzeilen leer. Investoren lockt das kaum. Der Wandel weg vom Bergbau hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft steckt fest in dieser Ecke des Ruhrgebiets. Auch Vorzeigeprojekte wie die Gelsenkirchener Solarzellen-Fabrik können das nicht kaschieren. Wer kann, der geht.
SPD ignoriert die WASG
Gelsenkirchen ist Hartz-IV-Town, die Stadt der Anti-Hartz-IV-Partei ist es deshalb noch lange nicht. Herrmann und Geiling tun sich schwer. Die SPD ignoriert die WASG, schon alleine deshalb, weil sie keine Partei links von ihr legitimieren will - und auch sonst finden die beiden Männer in Orange nur wenig Beachtung. Die Medien berichten kaum, zu Podiums-Diskussionen werden sie nicht eingeladen. Seitdem auch fast keiner mehr zu den Montagsdemonstrationen kommt, taugen sie nicht einmal mehr als Vorzeige-Revoluzzer. "Wir sind denen zu einfach", sagt Herrmann. "Die tun so, als ob wir nicht mitreden könnten", sagt er. Schlimm findet er das nicht. Es macht sie bei den Leuten glaubwürdiger, findet er. Schlimmer ist schon, dass selbst die von Hartz IV Betroffenen sich kaum für sie zu interessieren scheinen. Am Stand herrscht Ruhe. "Die Leute schämen sich, sich zu ihrer Arbeitslosigkeit zu bekennen", ist sich Herrmann sicher. "Sie schrecken vor politischem Engagement zurück. Sie haben resigniert."
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Politik-Profis, das lässt sich schwer verbergen, sind Herrmann und Geiling nicht. Vielleicht nicht einmal Politik-Amateure. Was würden sie denn als Landtags-Abgeordnete genau machen - abgesehen davon, dass sie postwendend Schluss mit Hartz IV machen würden? Die Kandidaten haben keine Antworten. Auch die eigene politische Verortung bleibt im Ungefähren. Links sei er, sagt etwa Herrmann - und auf die Frage, was das denn für ihn bedeute, dieses Linkssein, antwortet er: "Für mich war Linkssein immer gleichbedeutend mit rebellisch sein, damit, Demonstrationen zu unterstützen." Vielleicht erhält er ja demnächst ideologische Schützenhilfe. Oskar Lafontaine, Ex-Chef der SPD und bundesweit prominentester Salon-Linker, hat immer wieder mit der WASG kokettiert - Herrmann und Geiling jedenfalls wäre er willkommen. So ein Galionsfigur könnten sie schon brauchen bei der WASG, sagen die Gelsenkirchener.
Besonders gut sind die Kandidaten allerdings dann, wenn sie ihre konkrete Hilfe anbieten, eher im Kleinen als im Großen. Immer wieder haben sie etwa Reiner Lika, den Chef des Integrationscenters auf praktische Mängel in seiner Behörde hingewiesen - im Eingangsbereich etwa, oder bei Verfahrensabläufen. "Ich höre ihnen zu, nehme die Vorschläge ernst und versuche etwas zu ändern, wenn es sinnvoll ist", sagt Lipka. Er hält die WASG-Wahlkämpfer für gutmütig. Ihm, dem Verwaltungs-Chef, bereitet die Hartz-IV-Software derzeit mehr Sorgen als die orangenen Hartz-IV-Kritiker vor der Haustür.
Trinkhallen in jeder Straße
Noch haben Herrmann und Geiling das Volk noch nicht gefunden, das sich von ihnen vertreten lassen will. Dass sie jedoch ein ernsthaftes Anliegen haben, können sie mit einer Tour durch Gelsenkirchen jederzeit eindrucksvoll belegen. An diesem Donnerstag, bei der Fahrt mit Geilings dunkelgrauen Passat, zeigen sie Brennpunkte in Schalke und Bismarck - jenen Vierteln Gelsenkirchens, die besonders betroffen sind von der Arbeitslosigkeit. Menschen ziehen weg von hier, alte Häuserzeilen verfallen und Neubauten werden verrammelt, weil niemand dort einziehen will. Fast in jeder Straße gibt es einen Imbiss, der "Trinkhalle" heißt. Orte zum Abhängen sind das, zum Trinken. Selbst der Fußball ist da Luxus. "Seit Schalke die neue Arena gebaut hat", sagt Geiling, "sind die Stehplätze weg. Eine Ermäßigung für Arbeitslose gibt es nicht." Das mit der fehlenden Ermäßigung stimmt, das mit den Stehplätzen nicht - die gibt es immer noch.
Bei der Gelsenkirchener Tafel in der Bismarckstraße ist die Stimmung besser - auch wenn gerade der Erfolg dieser Einrichtung zeigt, wie sehr Menschen hier Hilfe benötigen. Ein einstöckiges Haus, ein Kühlcontainer, eine Küche, eine Ladenfläche - und 29 Mitarbeiter. ALG-II-Empfänger können sich alle zwei Wochen Gemüse und Lebensmittel abholen, die Supermärkte der Ketten "Lidl" oder "Plus" spenden, weil sie sie nicht mehr verkaufen können.
Andere, die nicht von zu Hause weg können, bekommen die Sachen in Kartons sogar nach Hause geliefert. Christine, eine zupackend wirkende, ältere Frau mit Schürze, ist seit sechs Jahren dabei. "Damals, als ich angefangen haben, waren es 18 Bedürftige. Heute kommen zehnmal so viel alleine hierher", sagt sie. In der Bismarckstraße wird die Ware nur mittwochs ausgegeben, in der Zentrale der Gelsenkirchener Tafel, kommen die Bedürftigen jeden Tag. Die WASG-Leute haben die Mitarbeiter schon einmal gesehen. Dass Hermann und Geiling jedoch ihre Favoriten auf dem Wahlzettel sind, diesen Eindruck erwecken sie nicht.
Stichtag ist am 31. Mai
Mittlerweile ist es Mittag. Herrmann muss nach Hause. Seine Tochter hat Geburtstag. Geiling setzt ihn vor seiner Wohnung ab und fährt dann weiter in Richtung Innenstadt. Plötzlich greift der WASG-Landtags-Kandidat ins Handschuhfach seines Autos. Der 44-Jährige holt einen Packen Briefe heraus. "Das sind alles Blindbewerbungen, die ich jetzt wieder rausschicke werde," schimpft er. "Ich bemühe mich weiter, ich will ja raus aus dieser Situation," soll das heißen. Allzu große Hoffnung auf einen neuen Job hat er nicht, zu wenig vertraut er den Vermittlern des Integrationscenters. "Das nächste Gespräch über meine Zukunft habe ich am 31. Mai", erklärt er gallig. Treffen wird er seinen Berater im Gebäude der Arbeitsagentur Gelsenkirchen. Der Wahlkampf ist dann vorbei.