Ein bisschen wehmütig hatte sich Ernst-Otto Stüber seinen letzten Arbeitstag schon vorgestellt, aber nicht voller Trauer und Wut. Einen fröhlichen Abend auf dem Repräsentationsflur des Bochumer Rathauses wollte der scheidende Oberbürgermeister geben. Mit Fiege-Pils aus der örtlichen Brauerei und Gesangseinlagen Bochumer Schauspieler. Alle, die in der Stadt Rang und Namen haben, hat Stüber eingeladen, um mit ihnen seinen Abschied zu feiern. Die Wirtschaftskapitäne und die Spitzen der Parteien, die Häupter der Kirchen und die Kommandeure der Kultur. Sie alle sind gekommen. Nur einer fehlt: Martin Apfel, der Leiter des Bochumer Opel-Werks.
Apfel hockt hinter seinem Führungskräfte-Schreibtisch am Opelring und weigert sich hartnäckig, das Büro zu verlassen. "Für das Geld, das ich hier verdiene, lasse ich mich nicht verhauen", erklärt der General-Motors-Manager dem Betriebsrat. Vor den aufgebrachten Arbeitern will Apfel genauso wenig reden wie mit dem scheidenden Oberbürgermeister.
"Die in Detroit kennen die Bochumer Stärke ganz genau"
"Dabei hatte ich doch immer ein gutes Verhältnis zur Werksleitung", sagt Ernst-Otto Stüber traurig. Zum Zeichen der Verbundenheit ließ er sich stets im Opel Signum von einem Termin zum nächsten kutschieren. "Auf Jubilar-Ehrungen von Opel-Mitarbeitern habe ich gesprochen und mit früheren Werkschefs auch privat verkehrt."
Es hat ihm nicht geholfen.
Dass General Motors im Bochumer Werk 4000 Stellen abbauen will, fast die Hälfte der Belegschaft, hat das Stadtoberhaupt am letzten Tag seiner Amtszeit aus der Zeitung erfahren, genauso spät wie die Opel-Arbeiter. "So kann man nicht mit Menschen umgehen", barmt der groß gewachsene Mann mit dem Igelschnitt und dem eisgrauen Spitzbart. Die Stimmung auf seinem Abschiedsempfang ist gedrückt. Dagegen helfen auch keine italienischen Gassenhauer, die Bochums Schauspielhaustruppe zum Besten gibt.
Einen Stoppelhaarschnitt wie Stüber hat der Mann an Tor 1 auch. Nur sind seine Haare rabenschwarz. Seit Stunden steht der Typ im grauen Opel-Overall, den sie "Toto" rufen, hinter der Schranke. Kalt ist der Herbstmorgen, aber das Frösteln des Gabelstaplerfahrers kommt von innen. Toto, der seinen Nachnamen lieber nicht gedruckt sehen möchte, hat Angst. Angst um seinen Arbeitsplatz, Angst um den Job seiner Frau, Angst um die Zukunft seiner Kinder, Angst vor dem Ruin.

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"Gestern Morgen hab ich einen Vertrag für ein Haus unterschrieben", sagt er mit dem Rest des italienischen Akzents, der ihm nach 14 Jahren bei Opel geblieben ist. "199000 Euro. Und jetzt steh ich hier und frage mich: Toto, wie willst du das finanzieren?"
Plötzlich leuchten Totos dunkle, traurige Augen. Ein Lächeln setzt sich auf seinen schmalen Lippen fest. Kornelia, seine deutsche Frau, taucht beim Streikposten an Tor 1 auf. Mit einer Thermoskanne Kaffee und Töchterchen Angelina auf dem Arm. Das 17 Monate alte Mädchen steckt in einem Mini-Trikot des AC Milan, rot-schwarz gestreift, auf der Brust der Opel-Blitz, im Kragen am Nacken der Name des Wunderstürmers Inzaghi. Toto hat es gekauft. Milan ist sein Club. Opel ist sein Werk.
Toto schlürft von dem Kaffee, den seine Frau für ihn gekocht hat, und bietet den Kumpels, die mit ihm Wache schieben, einen Becher an. Die kleine Angelina hängt inzwischen auf Papas Arm und mümmelt ein Brötchen. Und dann nimmt Toto sein Mädchen, hält es hoch über seinem Kopf, damit alle es sehen können. "Angelina soll weiter essen können!", ruft er und reicht seiner Frau die Tochter zurück über die Schranke.
"Jeder stirbt für sich allein"
Angelinas Mutter hat sich Zeit genommen für die Kinder, drei Jahre Erziehungsurlaub. Danach wollte Kornelia eigentlich wieder anfangen bei Opel in der Werkzeugschleiferei. "Hier ist ja schon immer was los gewesen", sagt sie, "aber dass das so extrem wird, hätte ich nie gedacht." Sonst hätten sie das Haus sicher nicht gekauft.
Was beim Opel in Bochum
los gewesen ist, wer wüsste das besser als Peter Jaszczyk. "Wenn der Pädda noch hier wär, dann ging dat noch ganz anders rund", sagt einer der alten Kämpen, die am Tor 1 darüber wachen, dass kein Astra Caravan, kein Zafira, kein Auspuff und keine Achse das Werk verlässt. Als Peter Jaszczyk an der rot-weißen Schranke auftaucht, geht ein Ruck durch die Menge. Mit 18 hatte Jaszczyk 1962 bei Opel angefangen, kurz nach der Werksgründung. Seine Kollegen haben ihn früh zum Vertrauensmann gewählt, dann zum Betriebsrat; 2002 ging er als Betriebsratsvorsitzender in Rente. Der ausgewiesene Linke hat alle Streiks angeführt, die hier ausbrachen, und das waren eine ganze Menge.
"Wir Bochumer Opelaner hatten immer den Ruf, die Spanier in der Bundesrepublik zu sein", sagt er mit unverhohlenem Stolz, "weil wir blitzschnell auf Angriffe reagiert haben." Jaszczyk glaubt, dass General Motors das Bochumer Werk genau deshalb dichtmachen wolle. "Die in Detroit kennen die Bochumer Stärke ganz genau. Deshalb schaffen sie Überkapazitäten im Ausland." Das neue Opel-Werk im polnischen Gleiwitz sei mit EU-Subventionen gebaut worden, sagt Jaszczyk. "So finanzieren wir mit unseren Steuern die Vernichtung der eigenen Arbeitsplätze."
Gut 200 000 Einheiten vom nächsten Zafira-Modell werde Opel wahrscheinlich pro Jahr verkaufen, rechnet Betriebsrat Rainer Einenkel vor, der fast genauso lange im Werk ist wie Jaszczyk. "Von der Kapazität her könnten die alle in Bochum gebaut werden. Trotzdem hat GM das neue Werk in Polen für 100 000 Zafiras angelegt. Wenn in zwei, drei Jahren die Nachfrage nach unserem Astra Caravan sinkt, stehen wir vor dem Aus."
Die "Trinkhalle Opel-Grill"
hat auch schon bessere Tage gesehen. Damals, als die Opel-Arbeiter noch in jeder Pause aus dem Werk stürmten und in der Kneipe auf die Schnelle ein, zwei Pils kippten, um den Flüssigkeitsverlust am Fließband auszugleichen. "Dat kann sich heute keiner mehr erlauben", sagt Josef Ruhnke, lässt den Kronkorken von der Bierpulle ploppen und nimmt einen Schluck. "Heute musst du nach der Pause beim Pförtner blasen. Null Prozent Alkohol im Werk."
Ruhnke war 24 Jahre Montagearbeiter im Motorenbau. Vor fünf Jahren ist er in Rente gegangen. Seitdem kommt er öfter in den "Opel-Grill", um mit Kollegen über die alten Zeiten zu schwatzen. Unter Gamsgehörnen und Hirschgeweihen schimpft er dann auf "den Polen". Ruhnke ist 1975 aus der Nähe von Danzig nach Deutschland ausgesiedelt. Sein Deutsch hat einen harten östlichen Einschlag. "Der Pole hat den Amis seine Schrottflugzeuge abgekauft. Dafür kriegt er das Werk in Gleiwitz", sagt Ruhnke bitter.
Ludger Hinse
würde sich so schnell nicht in den "Opel-Grill" verirren. Der Bochumer IG-Metall-Chef ist ein Künstler-Typ, der in seiner Freizeit anspruchsvolle Bilder malt. Unter röhrenden Hirschen fühlt Hinse sich sicher nicht wohl. Ansonsten ist er mit Josef Ruhnke einer Meinung. "Bush und General Motors sind ein Herz und eine Seele", sagt der Gewerkschafter mit der Baskenmütze. "Die Detroiter finanzieren dessen Wahlkampf. Und weil die Polen brav mit Bush in den Irak-Krieg gezogen sind und ihre Jagdflugzeuge bei Lockheed bestellt haben, kriegen die das Opel-Werk in Gleiwitz und den Zafira. So wird das "alte Europa" abgestraft."
Gliwice in Polen, das frühere schlesische Gleiwitz, liegt in einer Sonderwirtschaftszone. Steuern zahlen braucht GM dort nicht. Aber das tut Opel in Bochum auch nicht. "Aus der Gewerbesteuer hat sich Opel schon vor Jahren verabschiedet", klagt Ottilie Scholz, Stübers frisch gekürte Nachfolgerin im Oberbürgermeisteramt. Sie hätte besser "vor Jahrzehnten" gesagt. Schon 1985 reiste die Bochumer Stadtspitze nach Rüsselsheim, um vorsichtig anzufragen, wann Opel denn gedenke, in Bochum wieder Gewerbesteuern zu bezahlen. Damit sei in den nächsten Jahren nicht zu rechnen, bedeuteten die GM-Manager den Provinzpolitikern.
Die Ansiedlung der Opel-Werke in Bochum galt lange Jahre als Paradebeispiel für den gelungenen Strukturwandel im Kohlenpott. Von der Bergbau- und Stahlstadt zur modernen Autostadt. Der Preis, den die Kommune dafür zahlte, geriet mit den Jahren in Vergessenheit.
In Geheimverhandlungen, die unter dem Decknamen "Wolff & Co" geführt wurden, presste General Motors der Stadt Bochum Bedingungen ab, die in der Wirtschaftsförderung bis dahin undenkbar schienen. Die Stadt kaufte das Gelände zweier Zechen, von denen eine noch Kohle förderte, riss alle Gebäude auf eigene Kosten ab und verkaufte die Grundstücke für zwei Mark pro Quadratmeter an Opel weiter. Verlust: 20 Millionen Mark plus 12 Millionen Entschädigung für die Eigentümerin des noch fördernden Pütts. Den Einbau von Bergschädensicherungen in den Opel-Gebäuden musste die Stadt auch finanzieren. Kostenpunkt: 10 Millionen Mark. Für 40 Millionen Mark wurde eine neue Stadtautobahn gebaut, 47 Millionen Mark verschlang der Ausbau der übrigen Straßen rund ums Werk. An diesen Kosten beteiligte sich das Land Nordrhein-Westfalen. "Insgesamt aber - das ist längst kein Geheimnis mehr - hat uns die Ansiedlung Opels bisher die runde Summe von gut 70 Millionen D-Mark gekostet", gestand der damalige Bochumer Oberbürgermeister 1966 im Düsseldorfer Landtag. Eine eher konservative Schätzung. Hinzu kamen Landeszuschüsse in ähnlicher Größenordnung.
Anfang der 60er Jahre war das unvorstellbar viel Geld. Dafür gab es Arbeitsplätze, 20000 in besten Zeiten, heute sind es nur noch die Hälfte. Wenn die Pläne aus Detroit Wirklichkeit werden, arbeiten bald nur noch 5000 Menschen bei Opel in Bochum. Und danach? "Bis 2006 werden wir ohne Werksschließungen auskommen", sagt GM-Europa-Chef Frederick Henderson, "darüber hinaus können wir aber gar nichts garantieren."
Es ist nicht alles eitel Kampf
am Tor 1 des Bochumer Opelwerks. Wo Kämpfer sind, gibt es auch Zweifler. Ob man als einzelnes Werk einen Krieg gegen einen gigantischen Konzern wie General Motors gewinnen kann, fragen sich viele in Bochum, seit sie gemerkt haben, dass die in Rüsselheim, Kaiserslautern und Eisenach nicht den Hammer fallen gelassen haben. Von Antwerpen und Gleiwitz ganz zu schweigen. "Jeder stirbt für sich allein": Hinter vorgehaltener Hand hört man diesen Satz auch von Betriebsräten.
"Bei Stillstand Motor abstellen", steht auf dem Schild an Tor 1. Norbert Suska lehnt daran. Er ist 46 Jahre alt, und 26 davon hat er bei Opel verbracht. Er glaubt, dass die Proteste der Bochumer Belegschaft ihr nicht auf die Butterseite schlagen werden. Insgeheim rechnet er mit seiner eigenen Kündigung. Bei General Motors sprechen sie schon von einem "wilden Streik", Gehälter werden nicht gezahlt. Und vielleicht riskieren die Beschäftigten sogar mehr als ein paar 100 Euro. "Wer wild streikt", so hieß es Montag bei GM, "kann fristlos gekündigt werden." Trotzdem steht Suska Wache an Tor 1. Stunde um Stunde. Schicht um Schicht. Warum? Suska lächelt. "Meine Frau hat heute Morgen zu mir gesagt, Norbert, geh noch mal hin und tu denen da oben so richtig weh."