Außer Fußball interessiert die Menschen in Deutschland zurzeit offenbar wenig. Davon bleibt auch die Politik nicht verschont - was vielleicht mit dem schleppenden Reformtempo der großen Koalition zu tun haben könnte. In der wöchentlichen Umfrage des stern und des Fernsehsenders RTL verharren die Parteien jedenfalls auf niedrigem Niveau.
So gewinnt die SPD im Vergleich zur Vorwoche zwar einen Punkt hinzu und kommt auf 28 Prozent, damit liegt sie aber nur einen Punkt über ihrem Jahrestief. Die Union bleibt bei 35 Prozent, ebenfalls nur knapp über ihrem Jahrestief.
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Die Regierung kämpft unterdessen darum, bis zur Sommerpause ihre im Frühling versprochenen Etappenziele zu erreichen. Doch angesichts der Widerstände wird immer deutlicher, dass der Weg dahin steil und steinig ist. Und den können die Koalitionspartner nur mit gedrosseltem Tempo und unter großem Kraftaufwand bewältigen.
Bei SPD und Union wächst deshalb die Sorge um das Ansehen der großen Koalition. "Die Reformen sind alle dringend notwendig, und wir setzen unsere Glaubwürdigkeit aufs Spiel, wenn wir unsere Zeitpläne und Aussagen nicht einhalten", sagte der Vorsitzende des Parlamentskreises Mittelstand in der Unions-Fraktion, Michael Fuchs, der Nachrichtenagentur Reuters. "Wir müssen uns unbedingt an unsere Zusagen halten."
Bis zum WM-Endspiel am 9. Juli soll über Gesundheits-, Unternehmensteuer- und Föderalismusreform entschieden sein. Regierungssprecher Ulrich Wilhelm hat dabei den Vorwurf zurückgewiesen, die Regierung wolle im Windschatten der WM umstrittene Vorhaben durchpeitschen. Davon könne keine Rede sein. Der von der Koalition vereinbarte Zeitplan gebiete es, dass man "vor der Sommerpause mit den Eckpunkten zu Potte kommt".
Wann fängt die Sommerpause an?
In Sachen Gesundheitsreform ringen Union und SPD um erste Festlegungen und haben dabei auch mit handfesten Meinungsverschiedenheiten in den eigenen Teams zu kämpfen. Ob der Zeitplan eingehalten werden kann, bis zur Sommerpause verbindliche Eckpunkte vorzulegen, sei mittlerweile eine Frage der Definition, ab wann man von Sommerpause sprechen wolle, heißt es in der Unions-Führung.
Die Debatte über grundlegende Nachbesserungen an der Arbeitsmarktreform Hartz IV wurde gleich auf den Herbst vertagt. Und die Unternehmenssteuerreform, die Finanzminister Peer Steinbrück fertig auf seinem Schreibtisch hat, wird nur zögerlich vorangetrieben. Die Föderalismusreform, die bis Ende des Monats unter Dach und Fach sein soll, hakt am Streit über die Mitwirkung des Bundes in der Bildungspolitik.

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CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla bemühte sich angesichts der verfahrenen Lage um eine nüchterne Bewertung und sprach von arbeitsreichen Wochen, die vor den Koalitionspartnern Union und SPD liegen. Auch sein SPD-Kollege Hubertus Heil gab sich abgeklärt: "Nach dem guten Start, den wir hatten, steht die große Koalition jetzt vor den richtig dicken Brocken." Er warnte denn auch davor, den Zeitplan der Reformvorhaben als Garantie zu nehmen: "Ich habe nicht gesagt, dass es klappt. Ich habe gesagt, wir wollen, dass es klappt", sagte er mit Blick auf die verschiedenen Großbaustellen einschränkend.
Auch in der SPD geht die Sorge vor der Enttäuschung der Wähler um, wenn die Koalition ihre geballte Mehrheit nicht zu weit reichenden Reformen nutzt. "In einer großen Koalition sind Reformen möglich, die in anderen Konstellationen nicht möglich wären", sagte Heil. "Aber umgekehrt ist die Verantwortung genauso groß wie die Mehrheit", so ein anderer Sozialdemokrat.
In Teilen der Partei wird schon seit Monaten geklagt, die Koalition lege ohne Not ein zu geringes Reformtempo vor. "Wo ist denn der Reformdrang der CDU und von Frau Merkel?" fragte ein wirtschaftsnaher Abgeordneter besorgt. "Den würden wir brauchen, um gegen unsere eigenen Linken Reformen durchzusetzen." Der Parlamentarier warnte vor handwerklichen Fehlern und einem unsinnigen Kuhhandel unter den verschiedenen Reformvorhaben, falls die Koalition unter großen Zeitdruck gerate.
Koalition kann sich zurzeit eine Formschwäche leisten
Nach Einschätzung des Berliner Politologen Gero Neugebauer kann sich die Koalition eine vorübergehende Formschwäche leisten. "Zwar sinkt die Glaubwürdigkeit in die Tatkraft und auch in den Reformwillen, und das drückt sich in den nächsten Wahlen aus", so Neugebauer. "Aber die Wahlen in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern im Herbst haben für die Koalition keine wesentliche Bedeutung. Im Moment kann sie sich Liebesentzug leisten."
Auf längere Sicht müssten Union und SPD allerdings jeweils wieder ihr eigenständiges Profil schärfen, jede Partei müsse für sich langfristige Ziele abstecken und diese dann in der Koalition vertreten. Eine ernste Bewährungsprobe dürfte 2007 werden - dann müssen sich nämlich CDU, CSU und SPD für die Landtagswahlen in Hessen, Niedersachsen und Bayern warm laufen.