It's your turn, Kretsche. Mit diesem flapsigen Spruch kündigt das Präsidium des Parteitags in Kiel ihren Superstar an: Winfried Kretschmann, erster und einziger Ministerpräsident der Grünen. Und dann tritt dieser 63-jährige Schwabe ans Mikrophon. Blauweiß gestreiftes Hemd, schwarzes Sakko, die Schultern leicht nach vorne gezogen.
Näselnd und mit karger Gestik beginnt er seinen Vortrag, eine seiner ersten Empfehlungen an die Grünen lautet, "glaubwürdig und verlässlich" zu sein. Dieser Mann ist von "It's your turn, Kretsche" soweit entfernt wie ein Ölgemälde vom Grafitti. Wohl genau deswegen hat er es an die Spitze im erzkonservativen Ländle geschafft.
Kretschmann wirbt ein letztes Mal für die Ablehnung
Am Sonntag wird dort über das Megaprojekt Stuttgart 21 abgestimmt, und Kretschmann nutzt die Bühne des Parteitags, um ein letztes Mal für die Ablehnung zu werben. Der Tiefbahnhof sei verkehrstechnisch das "Nadelöhr der Zukunft", sagt er, das Kosten-Nutzen-Verhältnis völlig aus dem Ruder gelaufen. Es sei auch nicht verantwortbar, dass solche Projekte nach Baubeginn immer teurer würden und der Staat immerzu Geld nachschießen müsse. "Das ist einer der Gründe dafür, dass wir so überschuldet sind", sagt Kretschmann. Er muss die Beispiele für solche Großbaustellen gar nicht nennen, sie fallen jedem sofort ein - die Hamburger Elbphilharmonie ist eine davon.
Trotzdem ist es unwahrscheinlich, dass der Volksentscheid im Sinne des Ministerpräsidenten ausgeht. Erstens müsste eine Seite mindestens 30 Prozent der Wahlberechtigten für ihre Position gewinnen ("Quorum"), um einen verbindlichen Beschluss zu erwirken - und es gilt als unwahrscheinlich, dass überhaupt so viele Menschen an der Abstimmung teilnehmen. Zweitens weisen aktuellen Umfragen eine stabile Mehrheit der Befürworter aus, zuletzt stand es 55 zu 45 Prozent. Kretschmann hat sein mögliches Scheitern bereits vor Augen, er sagt in Kiel, dass durch den Volksentscheid jeder gewinnen würde. Weil er ein Schritt hin zur Bürgergesellschaft sei, ein "Mehr" an direkter Demokratie.
Gegner wollen Volksentscheid auf ihre Weise interpretieren
Ein Trost ist das für die S-21-Gegner nicht. Sie wollen den Volksentscheid auf ihre Weise zu interpretieren. Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer hat angekündigt, er werde sich an der Mehrheit der Stimmen orientieren, gleichgültig, ob das Quorum erreicht sei oder nicht. Das ist auch die Position des Aktivisten Hannes Rockenbauch: "An einer Mehrheit der Gegner bei der Abstimmung kommt man politisch nicht vorbei", sagte er stern.de. In der baden-württembergischen Linken kursiert die Auffassung, nicht die landesweite Mehrheit sei ausschlaggebend, sondern nur das Votum in der Stuttgarter Region. Kretschmann muss sich darauf gefasst machen, dass der Volksentscheid keinen klärenden Effekt hat - sondern die Frontverläufe nur noch komplizierter macht.
Schon am Mittwoch hat Kretschmann erklärt, er werde den offiziellen Ausgang des Entscheids akzeptieren und notfalls S21 bauen zu lassen. Für diese Aussage bekam er im Stuttgarter Landesparlament viel Applaus - von CDU, FDP und SPD, nur bei den Grünen rührte sich keine Hand. Das ist wohl der Grund, weshalb Kretschmann auf dem Parteitag in Kiel nichts weiter dazu sagt. Nach zehn Minuten bricht er das Thema S21 ab, spricht über direkte Demokratie, über die Wirtschaft ("Wir dürfen jetzt nicht in eine Steuererhöhungsorgie verfallen") und über die schwierige Suche nach einem atomaren Endlager.
Alle drängen sich um Kretschmann
Kretschmann ist ein Redner, den jeder versteht, und der vermitteln kann, er sei eine ehrliche Haut. "Augenmaß" ist eine seiner Lieblingsvokabeln, "auf dem Teppich bleiben" eine seiner Lieblingsredewendungen. Mit stolzgeschwellter Brust verwiesen Grüne schon vor dem Parteitag darauf, dass die Umfragewerte für Kretschmanns Landesverband seit Regierungsantritt sogar noch gestiegen sind. Aktuell liegt er bei 32 Prozent