Der Winter, so spottete der ostdeutsche Volksmund gern, zählte neben Frühling, Sommer und Herbst zu den größten Feinden des Sozialismus. Man hatte ja keine Vorstellung, wie anfällig auch selbstbewusstere Gesellschaftsordnungen für Schnee und Eis sind: Nach allerlei Katastrophen-Warnungen wird das aktuelle Wetter inzwischen zwar wieder als "normaler Winter" abmoderiert - aber der Müll trotzdem nur sporadisch abgeholt. Tausalz und Schlitten sind knapp. Züge stehen still. Mein schöner neuer Mercedes schafft es seit Wochen kaum noch aus der Parklücke...
Und trotzdem: Auch wenn sich Autos aus Pappe notfalls allein anschieben ließen, will ich - um Gottes Willen - nicht sagen, dass früher alles besser war. Viel schlimmer: Es war genau so. Dieser Winter, ist eine Schande für die Demokratie. Und das nicht nur wegen der Streugut-Mangelwirtschaft.
Da spricht eine Bischöfin aus, was die Mehrheit im Land über den Krieg in Afghanistan denkt und wird dafür heftiger angefeindet als Deutschland je von einem Taliban. Sie muss zum Rapport bei der Regierung antreten wie DDR-Kirchenführer in den 80er Jahren, wenn ein paar Pfarrer und Jugendliche auf ihren Kutten "Schwerter zu Pflugscharen" forderten. Wie damals wird Afghanistan gerade mal wieder mit Bomben der gesellschaftliche Fortschritt beigebracht. Wie damals redet man zu Hause lieber nicht offen von einem Krieg. Wie damals hat man einer befreundeten Supermacht bedingungslos zu folgen... Wie? Man kann das nicht vergleichen? Andere Zeiten, andere Prioritäten? Gut, ein paar Unterschiede gibt es schon: Zumindest offiziell hat die DDR in Afghanistan nicht aktiv mitgemacht. Fingerabzugsübungen wie vorher im Kosovo waren damals noch für alle Deutschen unvorstellbar. Und immerhin, auch das muss man zugeben, war der Einmarsch fremder Truppen in Afghanistan für den freien Westen 1980 noch Grund genug, die Olympischen Spiele zu boykottieren. Wäre natürlich schade für unsere Biathleten, so kurz vor Vancouver. Allein die Taliban, so scheint es, bleiben sich treu und sind immer noch die Alten.
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Leider kann man sich seine Erinnerungen nicht aussuchen, aber wahrscheinlich leiden viele ehemalige SED-Untertanen häufig unter ähnlichen Déjà-vus. Unter den sprachlichen Verrenkungen, wenn einem "teilverstaatlichte" Bankenkrisen oder "kriegsähnliche" Befreiungskämpfe vermittelt werden sollen. Wenn Tote und andere Kollateralschäden eines Systems so lange geheim gehalten werden, bis es nicht mehr geht und die Verantwortlichen die Verantwortung allein dadurch übernehmen, dass sie die Verantwortung abgeben. Nicht etwa wegen ein paar zivilen Opfern mehr oder weniger, sondern ausdrücklich nur wegen "Informationspannen". Honecker, so wissen wir heute, wollte die kleinen schmutzigen Details auch nie so genau wissen oder sie gingen auf dem Weg nach oben vorauseilend verloren. Und wenn eine Clique aus Politikern und Regierungsbeamten schon allein darüber entscheiden will, was ihr Volk wissen darf und was nicht, warum sollte sie dann nicht genauso selbstverständlich entscheiden wollen, wer Chefredakteur im staatlichen Fernsehen ist?
Es ist nicht schön, diese Muster überall wieder zu entdecken, aber auch nicht so schlimm. Wer das schon kennt, zuckt nur die Schultern. Nicht frustriert - das wird im Westen gern verwechselt - nicht einmal mehr enttäuscht, allenfalls ein wenig gelangweilt: Warum soll eine Ministerin nicht am Besten wissen, was ihre Untertanen im Internet sehen dürfen? Was soll die Aufregung, nur weil arbeitslose Faulpelze härter bestraft werden sollen? Wenn schon nicht mehr das "Recht auf Arbeit" gilt wie im Arbeiter- und Bauernstaat, so verstehe ich die Vorschläge aus Hessen, dann doch wenigstens die Pflicht dazu. Am Besten steckt man Hartz-IV-Schmarotzer gleich wieder wegen "asozialer Lebensweise" in den Knast (§ 249 DDR Strafgesetz), statt sie ständig umzubenennen. So kommt statistische Arbeitslosigkeit gar nicht erst auf. Hilft auch gegen Obdachlose und andere Aufmüpfige. Alles schon gehabt.
Kita-Plätze als Staats-Doktrin; Politiker, die ihre Ohnmacht selbstbewusst als Entschlossenheit verkaufen; einfältige Propaganda, inszenierter Parteitagsjubel, Durchhalteparolen und Schönfärberei - alles schon mal gehört. Ein Staat, der sich, um Subventionen zahlen zu können, von einem Milliardenkredit zum nächsten hangelt. Wo ohne nachbarschaftliche Schwarzarbeit und Vitamin B kaum noch jemand über die Runden kommt. In dem man sich lieber still an der Meinungsfreiheit freut, wenn Kollegen am Nachbarschreibtisch plötzlich aus fadenscheinigen Gründen verschwinden. Alles nicht neu.
Na gut, manches doch: Auf den alten Stasi-Stativen sind moderne Kameras montiert und überwachen die öffentlichen Plätze viel schärfer. Niemand muss mehr Westpakete aufreißen oder informelle Spione anheuern. Was wir denken und kaufen, wird einfach online und auf Vorrat mitgelesen. Gegen die Datensammelwut von Konzernen und Behörden heute wirken die Stasi-Einweckgläser mit Geruchsproben wie lächerliche Briefmarkenalben. Ob Polikliniken nun Ärztehäuser heißen, ob es um Doping für Sportler oder zappelnde Grundschüler geht, um Kleinbürger mit hypothetischem Volkseigentum oder ein Volk von Kleinaktionären mit Hypotheken, ob ein paar Banken unser Schicksal bestimmen oder ein paar Bonzen - alles halb so wild.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Etwas beunruhigender finde ich da schon, dass ich seit vergangenem Jahr wieder Kunde einer volkseigenen Bank bin und der Automat eines Tages vielleicht nur noch Spielgeld ausspucken könnte. Dass ich auf dem Weg von Leipzig nach Berlin durch ein Bundesland muss, in dem eine Art neue Sozialistische Einheitspartei aus SPD und Stasi-Schergen regiert. Dass sich dieses Modell die lautesten Agit-Prop-Journalisten mit West-Biografie schon wieder für das ganze Land vorstellen können. Gar nicht zu reden davon, wie schnell sie sich an eine FDJ-Funktionärin im Kanzleramt gewöhnt haben. Oder eben an ungeräumte Straßen.
Einmal in den vergangenen Tagen - solche Déjà-vus gibt es auch noch - hielten sofort zwei junge Männer neben meiner Parklücke. Sie hatten mich und meine Reifen durchdrehen sehen, opferten ihre Fußmatten, setzten sich in den Kofferraum, um den dämlichen Hinterradantrieb zu überlisten. Nichts half. Schließlich gruben wir die schwere Karre auf Knien frei. Dabei entdeckte ich an ihrem Auto einen Aufkleber, auf dem in kyrillschen Buchstaben, phonetisch verschlüsselt, stand: "Wer das nicht lesen kann, ist ein dummer Wessi." Im ersten Moment fand ich das selbst ziemlich dumm, weil es die Adressaten ja gerade nicht lesen können und die Beleidigung schon deshalb nicht ankommt. Aber dann hielt ein noch neuerer Mercedes neben uns und der Fahrer ließ herablassend die Scheibe herab: "Das ist ein Mercedes", belehrte er uns. "Hinterradantrieb. " Ich bedankte mich artig für den Tipp und wollte gerade erklären, dass wir schon alles versucht hätten. Meine beiden Helfer aber verdrehten nur die Augen, als wäre ihnen sofort klar, dass so ein Sprücheklopfer, der nicht mal mit anfasst, ihren Aufkleber bestimmt nicht lesen kann. Erst danach erkannte auch ich sein Nummernschild - und dass ich immer noch viel zu höflich bin: Man müsste es auch im richtigen Leben viel öfter laut sagen: Schnauze, Wessi!