Es dauert nicht lange, und das Willy-Brandt-Haus fühlt sich an wie eine Kirche. Das Foyer wird zum Mittelschiff, Brandts Statue zur Ikone und das Rednerpult zur Kanzel. Auf ihr hat SPD-Veteran Erhard Eppler Stellung bezogen und predigt. Eine Besuchergruppe aus Baden-Württemberg ist vor Ort. Einige haben die Augen geschlossen, andere die Hände gefaltet. Schweres Atmen - lange Seufzer. "Schlimm" sagt eine Frau, als der Mann auf der Kanzel über Bürgerkriege redet. "Hmm" brummt ihr Sitznachbar ausweichend. Ansonsten ist alles ruhig. Und Eppler stellt sein neues Buch vor.
Bücher von Sozialdemokraten sind schwer angesagt in diesen Tagen. Sigmar Gabriel, Franz Müntefering, Ottmar Schreiner, Kurt Beck - die Liste ist lang. Und nun also auch noch Erhard Eppler, ehemaliger Minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und sozialdemokratisches Urgestein. "Eine Partei für das zweite Jahrzehnt: die SPD?" heißt das Werk, das nach Aussage eines Verlagsmitarbeiters ausdrücklich "kein Bewerbungsschreiben für ein politisches Amt" sein soll. Das erstaunt niemanden, immerhin ist Eppler mittlerweile 82 Jahre alt.
Was macht ein Querdenker?
Erstaunlich hingegen die dröge, klerikale Stimmung in der SPD-Zentrale. Dass draußen die Börsenkurse ins Bodenlose fallen, macht im Willy-Brandt-Haus offenbar niemanden nervös. "Wer zukünftig die Freiheit der Märkte fordert, macht sich lächerlich" sagt Eppler. Aber er sagt es in diesem typischen typischen Eppler-Sound, einem eigentümlichen Singsang, getragen von seiner seltsam hohen Stimme. Eppler, der zum linken Flügel seiner Partei gezählt wird, war nach seinem Ausstieg aus der Politik 1982 vier Jahre lang Kirchentagspräsident. Das hört man: "Die Aufgabe der Politik ist es, die Verletzungen im Gerechtigkeitsgefühl der Menschen, wenn schon nicht zu heilen, dann doch wenigstens vernarben zu lassen."
Ein "Vor- und Querdenker" sei Erhard Eppler, behauptet der sozialdemokratische Vorwärts-Buchverlag. Was hat man davon zu halten? Dass Politiker denken können, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Und wenn jemand vordenkt - denken die Anderen dann hinterher? Ein seltsames Bild. Was es dagegen heißt, wenn jemandem unterstellt wird, er sei ein Querdenker, ist klar: Es bedeutet, dass seine Geschichten nicht in die aktuelle Landschaft passen.
Müntefering im Wahlkampf
Das würde Franz Münterfering, der die Laudatio auf Eppler hält, natürlich so nie sagen. Der Gedanke lässt sich ja auch subtiler vermitteln. Also erzählt Müntefering, der designierte SPD-Chef, von der gemeinsamen Zeit Epplers mit Gustav Heinemann und Johannes Rau. Das Problem: Diese gemeinsame Zeit liegt mittlerweile etwas zurück, ziemlich genau 55 Jahre.
Damals gründeten Eppler, Heinemann und Rau aus Protest gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik die Gesamtdeutsche Volkspartei. Damaliger Kanzler: Konrad Adenauer. Es sind längst geschlagene Schlachten, die Müntefering da aus dem Leben Epplers referiert. Und genau damit deutlich macht, wie er sich selbst - obwohl nur 14 Jahre jünger - vom "Silberrücken" Erhard Eppler unterscheidet.
Müntefering ist agiler, sein Redestil hemdsärmliger. "Das Buch hat acht Kapitel" beginnt der Sauerländer und endet mit dem knappen Befund: "Bin hoch zufrieden!" Schnell wandelt er Passagen aus Epplers Buch noch in ein paar Wahlkampfschnipsel um: Mindestlohn! Starker Staat! Bildung! Zack, aus, nächstes Thema. Eppler kann das nicht, er ist zu langsam. Und zu weit weg von politischer Macht.
Randfigur Eppler
Nach der Veranstaltung sitzt er dann da. In einem roten Ledersessel neben der Statue von Willy Brandt. Auf dem Glastisch neben ihm liegt ein Mikrofon, als müsse er jederzeit bereit sein, zu einer Menschenmasse zu sprechen. Doch Eppler redet nicht. Denn es ist kaum jemand da, der ihn anspricht. Stattdessen bildet sich eine Menschentraube um Franz Müntefering.

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Und der hat alle Hände voll zu tun, denn er signiert Bücher. Erst das von Eppler, dann auch sein eigenes, das er plötzlich hervorzaubert und zwinkernd in die Kameraobjektive der Fotografen hält. Zwei Meter von ihm entfernt sitzt Eppler und sieht zu, wie Parteigenosse Müntefering lächelnd seinen Namen in fremde Bücher schreibt. Politik ist gnadenlos. Eppler ist Randfigur, Müntefering der Chef im Ring. Ohne den Hauch einer Chance wird der 82jährige vom starken Mann der SPD an die Wand gedrückt. "Macht Politik!" heißt Münteferings Buch. "Machtpolitik" wäre auch ein schöner Titel gewesen.