Draußen vor dem Parteitag spielten sich turbulente Kampfhandlungen ab. Bei Raufereien mit aufgebrachten Demonstranten verlor Partei-Vize Herbert Wehner zwei Zähne. SPD-Chef Willy Brandt bekam einen kräftigen Schirmhieb auf den Schädel. Auch in der Halle ging es zwischen den verkrachten Genossen zünftig zu. Ein randalierender Teilnehmer schüttete einem anderen ein Glas Wein ins Gesicht. Ein Delegierter fragte vom Mikrofon aus, ob es eigentlich sozialdemokratisch sei, Richtungskämpfe in Messerstechereien ausarten zu lassen. "Dir hätten sie auch einmal die Fresse polieren müssen", ging Wehner einen Kontrahenten an.
Das war vor gut 37 Jahren, als die SPD im März 1968 in aufgeheizter Stimmung daran ging, auf einem Parteitag in Nürnberg über die erste große Koalition mit der Union abzustimmen. Brandt und Wehner hatten aus Furcht vor einer Niederlage das Delegiertenvotum über das ungeliebte Bündnis 16 Monate hinausgezögert. Trotzdem entging die Spitze nur mit Ach und Krach einem Debakel. Mit gerade mal vier Stimmen Vorsprung konnte der SPD-Vorstand seine Linie durchsetzen. Fast die Hälfte der Delegierten verweigerte der Führung den Gehorsam.
Breite Zustimmung erwartet
Unter anderen, aber nicht weniger brisanten Vorzeichen kommen von diesem Montag an in Karlsruhe die SPD-Delegierten zusammen, um erneut über eine große Koalition abzustimmen. Wütende Proteste vor und in der Messehalle dürften sich diesmal in Grenzen halten. Nachdem sowohl die Parteirechte als auch die Linke in seltener Eintracht bereits ihr Ja zum Koalitionsvertrag signalisiert und darin übereinstimmend eine klare "SPD-Handschrift" erkannt haben, wird mit breiter Zustimmung gerechnet.
Dagegen ist noch nicht ausgemacht, ob die Emotionen wegen einer anderen - internen - Angelegenheit hochschlagen werden: die Aufarbeitung der Führungskrise, die bei der SPD vor zwei Wochen mitten in der kritischen Phase der Regierungsbildung wie ein Blitz einschlug. Mit Hilfe der Parteitagsregie soll dafür gesorgt werden, dass auch dabei möglichst wenig aus dem Ruder läuft.
Abschied und Neuanfang
Der Abschied von Gerhard Schröder als Kanzler und von Franz Müntefering als Parteichef sowie die Inthronisierung von Matthias Platzeck als neuer Hoffnungsträger sollen möglichst die Bilder von Karlsruhe prägen. Dies soll entsprechend zelebriert werden. Schröders Abgang ist in der Partei inzwischen weitgehend verdaut, der Rückzug Münteferings dagegen noch längst nicht. Der Parteichef, der nach nur 20 Monaten das "schönste Amt neben dem Papst" abgibt, musste mit dem Misstrauensvotum des SPD-Vorstands wegen der Personalie um den nächsten Generalsekretär persönlich den höchsten Preis für das Bündnis bezahlen.
Mit viel Stolz werden die Genossen wohl in Karlsruhe auf "ihren Franz" blicken, wenn er Bilanz zieht und den Auftrag für erfüllt erklärt: Tarifautonomie, Bafög und Atomausstieg aus dem SPD- Wahlprogramm verteidigt, Elterngeld und Reichensteuer durchgesetzt, ebenso ein Milliardenprogramm zur Ankurbelung der Wirtschaft. Und kaum jemand dürfte Müntefering anschließend den bislang einmaligen Wunsch abschlagen, sich den Eintritt ins Kabinett als Vizekanzler per Parteitagsbeschluss extra absegnen zu lassen.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
Abonnieren Sie unseren kostenlosen Hauptstadt-Newsletter – und lesen Sie die wichtigsten Infos der Woche, von unseren Berliner Politik-Expertinnen und -Experten für Sie ausgewählt!
Tag der Abrechnung
In seiner Abschiedsrede als SPD-Chef will Müntefering auch dafür werben, nun nicht alle diejenigen abzustrafen, die ihn aus welchen Motiven auch immer zu Fall gebracht haben. Man solle die ganzen Hintergründe dieser "Geschichte von vorgestern" nun nicht "psycho- pathologisch aufarbeiten", gab er als Devise aus: "Das gibt nur zerkratzte Gesichter". Doch dass diese Mahnungen, das Kriegsbeil zu begraben, so einfach akzeptiert werden, ist eher unwahrscheinlich. Auch wenn es beim SPD-Kongress nicht zum offenen Aufstand gegen die Müntefering-Frondeure kommt, könnte mancher Beteiligten bei den geheimen Führungswahlen sein blaues Wunder erleben.
Für Platzeck ist es nicht gerade ein gutes Omen, dass er sich fast auf den Tag genau zehn Jahre nach dem "Putsch von Mannheim" zur Wahl stellt, als Oskar Lafontaine Rudolf Scharping vom SPD-Vorsitz wegputschte. Auch dieser Vorgang erinnert an die politische Kurzlebigkeit der meisten SPD-Vorsitzenden. In der Partei-Historie sind seit Brandts Abgang 1987 mit Müntefering nun schon sieben Nachfolger verzeichnet.
Vielleicht ist für den neuen Mann aber der Ort seiner Wahl ein günstiges Zeichen. 1964 wurde Brandt ebenfalls in Karlsruhe erstmals als SPD-Chef gewählt und schaffte mit 23 Amtsjahren dann mit Abstand den bisherigen Nachkriegsrekord.
Joachim Schucht/DPA