Tunnelunglück Von Leid, Neid und Gerechtigkeit

  • von Georg Wedemeyer
Seit mehr als fünf Jahren kämpfen Überlebende und Angehörige der 155 Toten des Tunnelunglücks von Kaprun um ihr Recht auf Entschädigung. Der juristische Streit entzweit nicht nur die Opferanwälte, sondern auch Betroffene in einer kleinen Stadt in der Oberpfalz.

Manfred Hiltels schlimmste Albträume sind die mit dem Schlitten. Ein großer Schlitten, in dem all seine langjährigen Skiklubfreunde sitzen, während er selbst draußen in einem dunklen Loch gefangen steckt. Der Schlitten rauscht vorbei. Und die Kameraden rufen: "Warum bist du nicht mit uns gekommen?"

Der kleine, gedrungene Mann aus dem oberpfälzischen Vilseck reibt mit der geballten Hand über seine gefurchte Stirn. Er atmet schwer. Auch nach fünf Jahren quält ihn noch die Erinnerung. 20 Mitglieder des Skiklubs sind damals von dem gemeinsamen Wochenendausflug ins österreichische Kaprun nicht mehr zurückgekehrt. Die Kameraden auf dem Traumschlitten. Insgesamt waren es 155 Insassen der Gletscherbahn, die im November 2000 im Feuerinferno erstickten und verbrannten.

Familienvater Manfred Hiltel, 57, dessen Sohn damals die Unglücksbahn knapp verpasste, gehört zu den zwölf Überlebenden des Todeszugs. Als schwarzer Rauch aufquoll, kein Feuerlöscher greifbar war und die Kabinentüren trotz wilden Rüttelns geschlossen blieben, griff Hiltel seinen Ski und hämmerte verzweifelt mit der Metallspitze gegen die Plastikscheibe. "20-, 30-mal", bis sie barst. Als gewissenhafter Bürger dachte er noch: "Du machst den Zug kaputt." Doch: "Ein paar Minuten länger gezögert, und wir wären auch tot gewesen." Hiltel schob, drängte, zerrte alle durch das Rettungsloch, stürzte als Letzter auf das schmale Bahngleis und wankte durch den düsteren Tunnel nach unten ins Freie. Buchstäblich um Haaresbreite entrann er dem Tod: Der Kragen seines Anoraks war schon angekokelt, Haare am Hinterkopf versengt.

Die Unglücks-Erinnerung stört nicht nur seinen Schlaf. "Wenn ich eines der Vilsecker Kinder sehe, die durch die Tragödie zu Waisen wurden, taucht es in meinem Innern auf, wie alles rauchte und oben in den Waggons die Leute schrien." Seitdem graut ihm vor Bussen, Zügen und Massenveranstaltungen.

Große Rhetorik liegt dem bedächtigen Qualitätsprüfer Manfred Hiltel nicht. "Wahnsinn", formuliert er hilflos, wenn er auf dem Friedhof an einem der Grabsteine der Toten von Kaprun vorbeigeht. "Wahnsinn", wenn er den Totengedenkstein mit allen Namen mit Weihwasser besprüht. Immer nur: "Wahnsinn."

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die juristische Aufarbeitung der Tragödie zu. Die quält sich inzwischen ins sechste Jahr. Ein nicht enden wollender Leidensweg für die Opfer - Überlebende und Hinterbliebene -, gepflastert mit Skandalurteilen und juristischen Absurditäten. Doch jetzt beginnt die entscheidende Phase. Die Betroffenen müssen sich noch im Mai entscheiden, ob sie das eher kärgliche Vergleichsangebot Österreichs von 16 Millionen Euro annehmen oder weiterprozessieren wollen. Darüber haben sich ihre Staranwälte Michael Witti aus Berlin und Ed Fagan aus New York total zerstritten. Der Amerikaner will in diesen Tagen aufgrund neuer Beweise die Republik Österreich in den USA verklagen.

Strafrechtlich gesehen hatte die größte Skikatastrophe der Geschichte keinerlei Konsequenzen. Alle 16 Angeklagten wurden vom Vorwurf der "fahrlässigen Herbeiführung einer Feuersbrunst" freigesprochen. Die Bahnleitung ebenso wie zuständige Beamte der Seilbahnbehörde, Monteure und Mitarbeiter der Hersteller- und Zulieferfirmen und der TÜV. Geurteilt wurde auf Grundlage eines veralteten Eisenbahngesetzes von 1957. Demnach wurden der Stand der Technik beim Zug und alle geltenden Vorschriften eingehalten, so das Endurteil vom Herbst 2005.

"Ein solches Fiasko, und kein Mensch ist schuld? Da braucht man lange, bis man das verdaut", sagt Hiltel. Schuld sein sollte stattdessen ein kleiner Heizlüfter namens "Hobby TLB" der deutschen Firma Fakir. Ihn hatten die Seilbahnbetreiber in den Zug eingebaut, obwohl in seiner Gebrauchsanleitung ausdrücklich stand, er dürfe nicht in Fahrzeuge eingebaut werden. Doch für die Österreicher war die gezogene Gletscherbahn kein Fahrzeug, sondern ein "Fahrbetriebsmittel".

Der glühende Heizstern des Fakir setzte das Kunststoffgehäuse in Brand. Darunter leckte seit langem eine Hydraulikleitung. Daneben lagerten 360 leicht entzündliche Notleuchtstäbe der Firma Omniglow in primitiven Holzkisten. Zusätzlich gab es ungesicherte Hydraulik-Öltanks von Bosch und Presslufttanks von Siemens für die Türen. Feuerlöscher und Sprechkontakt von den Passagierwagen zum Fahrerhaus fehlten, ebenso Notöffnungshebel für die Türen. Der Tunnel hatte keine Notbeleuchtung, keine Notausgänge, keine Sprinkler, keine Rettungswege, und die Brandschutzklappe am Tunnelausgang war defekt, was zum verheerenden Kamineffekt führte. So nahm die Katastrophe ihren Lauf.

Nicht nur die strafrechtlichen Freisprüche müssen die Leidtragenden hinnehmen. Auch bei ihren zivilrechtlichen Ansprüchen auf Schadensersatz und Schmerzensgeld gibt es schwere Tiefschläge. Während die zwölf Überlebenden und die Hinterbliebenen der 155 Toten aus acht Nationen mit ihrem Trauma ringen, doktern mittlerweile rund 50 Anwälte aus zwei Dutzend internationalen Kanzleien an ihren Fällen herum. In wechselnder Liaison. Mandanten werden unterschiedlich informiert und instrumentalisiert, manche wissen kaum noch, wer sie vertritt.

Anfangs hatte das

deutsch-amerikanische Anwalt-Führerduo Michael Witti und Ed Fagan Hoffnungen auf Zahlungen in Millionenhöhe genährt, die vor US-Gerichten erstritten werden sollten. Die beiden haben sich als Spezialisten für Schadensersatz und Schmerzensgeld profiliert und in einigen großen Fällen, wie den Klagen von Holocaust-Opfern, der Katastrophe von Eschede, dem Lipobay-Skandal oder der BSE-Krise, zusammengearbeitet. Sie bevorzugen US-Gerichte, weil dort zehnmal höhere Entschädigungen zu erzielen sind, was sich wiederum auf ihre Honorare auswirkt. Doch im Fall des Kaprun-Unglücks hatten sich Fagan und Witti nach ersten juristischen Fehlschlägen wegen der weiteren Strategie überworfen. Mittlerweile bekämpfen sich die Anwälte vor den Augen ihrer Mandanten fast bis aufs Messer. Der Zwist endet nun sogar vor Gericht: Ed Fagan hat Michael Witti vor dem Supreme Court von New York verklagt, weil der angeblich Dokumente zurückhalte, Gerichtstermine und Vereinbarungen boykottiere, kaum zu erreichen sei. Darüber hinaus Mandantengelder einbehalten und Rechnungen nicht bezahlt habe. Insbesondere diesen letzten Vorwurf nennt Witti "eine Unverschämtheit".

Michael Witti, der nach eigenen Angaben noch 83 Betroffene vertritt, strebt den außergerichtlichen Vergleich an, mit dem Österreich lockt. Klaus Liebscher, Gouverneur der Nationalbank in Wien und Vorsitzender der staatlichen Kaprun-Vermittlungskommission, bietet einen Ausgleichsfonds von "derzeit 14 bis 16 Millionen Euro" an, mit der vagen Hoffnung, "der Betrag könnte noch nach oben gehen". Das Geld würde mittels eines Leidens-Punktesystems zugeteilt. Für jeden Kläger kämen 15 000 bis 100 000 Euro heraus. Abzüglich Anwaltsgebühren und Unkosten vielfach nur ein paar tausend Euro. Das Angebot gilt allerdings nur, wenn alle Betroffenen demnächst unterschreiben.

Dazu wird es wohl nicht kommen. Denn Ed Fagan hat für "den Pott" nur ein höhnisches Lachen übrig. "Viel zu wenig, ich will einen Schuldigen und eine Entschuldigung." Im April hatte er bereits eine Beschwerde gegen die Alpenrepublik beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingereicht, weil es kein faires Verfahren über Kaprun gegeben habe. Jetzt verklagt er im Namen von 172 Hinterbliebenen und Überlebenden die Republik Österreich mitsamt dem Verkehrsministerium, der Gletscherbahnen AG, dem Verbund-Austria Hydro Power und der Elektrizitäts-Wirtschafts-AG des Landes in New York.

Mit einem Expertenteam durfte Ed Fagan vorige Woche erstmals das Versteck des Todeszuges besichtigen. Im Halbdunkel einer riesigen Kasernenhalle bei Salzburg dämmern die verklumpten Blechhaufen der verbrannten Seilbahn und der verkokelte Gegenzug seit Jahren vor sich hin. Den Zutritt erzwangen sich die Amerikaner per Gericht. Auch um den mittlerweile stillgelegten Tunnel zu sehen, bleibt nur der Rechtsweg. Die Gletscherbahnen AG will die Anwälte nicht freiwillig hineinlassen. "Die haben was zu verbergen", vermutet der Fagan-Anhänger Bernd Geier, der das Team als Sohn des Vilsecker Überlebenden Hermann Geier, 69, begleiten durfte.

Der Witti/Fagan-Konflikt geht heute wie ein unsichtbarer Riss auch durch den Ort Vilseck. Er hat "eine Kluft gemacht", sagt Manfred Hiltel. Die Gruppe der Überlebenden baut auf Fagan. Die Angehörigen der Todesopfer tendieren zu Wittis Vergleichsstrategie. Man redet kaum noch miteinander.

Vor der Tragödie kannte kaum einer Vilseck. Ein ländliches Städtchen mit 6600 Einwohnern, aufgeputzten Bürgerhäusern in der heimeligen Altstadt, einer alten Burg, rotgeziegeltem Bahnhof und Kirchturmspitzen. Höhepunkte des Vilsecker Alltags sind der alljährliche Florianstag mit Fahrzeugweihe; das Frühlingskonzert des Gesangsvereins "Liederkranz"; die Kirwa (Kirchweih) mit Baumaustanzen, Bärtreiben und den Bayerwald-Rebellen. Man trifft sich beim Musikerstammtisch, auf dem Fußballplatz oder auf ein Bier in den Gasthöfen Specht oder Ströll. Und überall ist Kaprun offiziell kein Thema mehr.

Was Einzelnen die Seele bedrückt, wird öffentlich verdrängt. Man vergräbt seinen Kummer, scheut die Presse und Fotografen. Der neue Bürgermeister Hans-Martin Schertl sagt, dass er zu dem alten Fall nichts sagt. Auch der Pfarrer und der Diakon schweigen.

"Das Juristische muss

irgendwann beendet sein. Die Tragödie wird jeden von uns sowieso ein Leben lang begleiten," sagt Christine Schmid. Die Krankenschwester, deren Bruder im Tunnel umkam, spricht als Einzige der Angehörigengruppe noch mit Außenstehenden über das Drama. Sie will den Vergleich unterschreiben, "dann habe ich wenigstens auf dieser Seite meinen Frieden".

Ob weiterprozessieren oder unterschreiben, gemeinsam leiden die Betroffenen unter einem dritten Riss: der tatsächlichen oder bloß vermuteten Missgunst der Nicht-Betroffenen. War das nicht so auch nach den Presseberichten über Schmerzensgeld und Schadensersatz bei den Unglücken im Mont-Blanc-Tunnel und mit der Cavalese-Seilbahn, wo angeblich bis zu zwei Millionen Dollar pro Kopf ausgezahlt wurden? Wie viel Geld ist eigentlich schon im Fall Kaprun geflossen?

Viele in Vilseck kennen nicht die Realitäten: Die Generali, Versicherer der Gletscherbahnen, hat bisher 11,5 Millionen Euro für Beerdigungskosten, Waisenrente, Sachentschädigung, Verdienstausfall, Gerichtskosten sowie eine pauschale Abschlagssumme auf eventuelles Schmerzensgeld von rund 7200 Euro auf die Treuhandkonten der Kanzleien ausgezahlt. Davon sind allerdings bei vielen Klägern nur Bruchteile angekommen, weil manche Anwälte gleich ihre Gebühren abgezogen haben.

Hier auf dem Land, wo jeder jeden kennt, können Vermutungen den Alltag zum Spießrutenlaufen machen. Ein Opfer-Angehöriger wurde beim Bäcker "diskret" gefragt, wie viel "man" denn so bekommen habe. Beim Friseur mutmaßten die Damen: "Des wird eine sechsstellige Summe." Als sich ein Mann nach der Tragödie, bei der er einen Sohn verlor, ein neues Auto kaufte, munkelte Vilseck: Aha, da bleibt das Schmerzensgeld. Und bei jeder neuen Prozess-Schlagzeile heißt es hinter vorgehaltener Hand: Kriegen die denn nie genug?

Hermann Geier und sein Sohn haben deshalb wie viele andere schon angekündigt, einen großen Teil des Geldes zu spenden. Geier: "Wir wollen unsere Angehörigen nicht verkaufen. Wir wollen Schuldanerkenntnis und Gerechtigkeit."

Während sich die Vilsecker zwischen Neid, Streit und Leid bewegen, geht es der Kapruner Wirtschaft prächtig. Man rühmt sich "nach den Erkenntnissen aus dem Brandunfall vom November 2000", so die offizielle Formulierung, für seine "laufenden Mitarbeiterschulungen" in Sachen Brandschutz und Wartungsarbeiten. Neue Gondeln befördern nun die Gäste auf den Gletscher, in die "Faszination des ewigen Eises". Touristen vergessen schnell. Kapruns Fremdenverkehrschef Hans Wallner bejubelt die steigende Beliebtheit des Ortes. "Die Schallmauer von einer Million Gäste pro Jahr" sei längst durchbrochen. Das sind mehr als je zuvor.

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