Während meines Geschichtsstudiums war ich sehr froh, dass Heinrich von Treitschke nicht mehr auf dem Lehrplan stand – oder nur als Beispiel dafür, wie Historie gerade nicht zu sehen sei. "Männer machen die Geschichte", hatte der Urhistoriker Treitschke als Maxime vorgegeben, er wies den Weg für den Personenkult in der deutschen Geschichtsschreibung. Ich weiß nicht, ob es in China gerade einen Treitschke-Nacheiferer gibt, wäre darüber aber nicht verwundert. Denn dort gilt spätestens seit dieser Woche der Satz: "Ein Mann macht die Geschichte."
Präsident Xi Jinping hat sich die Machtfülle eines Mao gesichert, und sein Machthunger ist noch lange nicht gestillt: Er will Herrscher auf Lebenszeit werden. Xi ist der starke Mann, aber bleibt sein Land dadurch auch stark? Die Geschichte lehrt, dass absolute Macht absolut korrumpiert. Wenn Widerspruch strafbar, wenn (digitale) Durchleuchtung absolut ist, dann führt dies immer zu absoluten Fehlentscheidungen, zu besichtigen etwa in der Farce der chinesischen Corona-Politik. Sein Land sei stärker als je zuvor, beteuert Xi, aber wer will seinen "chinesischen Traum" ernsthaft mitträumen? In Russland haben wir gesehen, wie einsam Alleinherrscher werden können, von Wladimir Putin müssen wir uns unter Schmerzen abnabeln. Unsere Distanzierung von Xis China dürfte ebenfalls schmerzhaft werden, allein voriges Jahr haben deutsche Unternehmen Waren im Wert von mehr als 100 Milliarden Euro dorthin exportiert. Die Frage ist aber, ob wir die Rechnung jetzt bezahlen wollen oder später: Denn Abhängigkeit von Autokraten wird immer teuer.
Keine deutsche Kollektivschuld, aber eine kollektive Verantwortung
Charlotte Knobloch wird nächste Woche 90 Jahre alt, sie wurde 1932 in München geboren, sie hat den Holocaust knapp überlebt und ist in Deutschland geblieben. Sie sagt: "Deutschland ist meine Heimat." Was soll sie auch sonst sagen? Und dennoch ist es ein ungeheuerlicher Satz, wie Sie im bewegenden Gespräch meiner Kollegen David Baum, Tilman Gerwien und Rafael Seligmann mit Knobloch – langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland – nachlesen können. Denn: Wie (über-)lebt man im Land der Täter, unter Menschen, die kurz zuvor noch geschrien hatten: "Die Juden sind unser Unglück" (auch so ein Treitschke-Satz). Einer von Knoblochs Zentralratsvorgängern, Ignatz Bubis, hat dem stern einst zu seinem Lebensende gesagt, er habe fast nichts erreicht in der Verständigung von Juden und Deutschen. So einen Satz sagt Knobloch nicht. Aber wir schulden ihr, dass sie ihn nicht einmal denken muss. Denn es gibt keine deutsche Kollektivschuld, wohl aber eine kollektive Verantwortung, die aus unserer Geschichte erwächst.
Silvana Koch-Mehrin hat in einem stern-Gespräch vor wenigen Wochen offenbart, wie sexuelle Belästigungen durch FDP-Parteifreunde an der Tagesordnung waren. Der Spitzen-Liberale Wolfgang Kubicki hat sich nun an ein Treffen mit Koch-Mehrin in Brüssel erinnert, natürlich habe er sie damals "angebaggert" und damit erst aufgehört, als ihr Mann hinzukam. Koch-Mehrin sagte später, sie habe diesen dazugebeten, weil sie so etwas geahnt habe. Kubicki beharrt, Flirten unter Parteifreunden dürfe ja wohl noch erlaubt sein – und man ahnt, wie er auf johlende Zustimmung wartet. Will noch jemand mitjohlen? Zu Beginn der Koch-Mehrin-Enthüllungen hieß es aus der Partei, das sei die alte FDP, mit der habe die aktuelle Partei nichts mehr zu tun. Kubicki ist aber nicht einfach die alte FDP, er gehört zu den aktuell einflussreichsten Liberalen, er ist Bundestagsvizepräsident. Wäre es nicht Zeit für ein Machtwort an den Macho? Vielleicht vom Parteivorsitzenden?