Zäher Parteienbrei Deutschland versinkt in der Konsenssoße

Mit dem Atomschwenk könnte einer der letzten gesellschaftlichen Großkonflikte enden. Die Parteien stürmen in die Mitte. Die derzeitigen Verschiebungen rauben schier den Atem.

In 35 Tagen wird auch er weg sein, der letzte große Polarisierer, den die deutsche Politik noch hat. Zusammen mit dem FDP-Vorsitz wird Guido Westerwelle seine schneidende Rhetorik endgültig ablegen; wenn er sich künftig zu Wort meldet, dann nur noch in den sanften Tönen des Chefdiplomaten. Dem Hardliner, der sich als kühler Spalter der Nation gefiel, folgt mit Philipp Rösler ein freundlicher Softie, der den Liberalen Wärme verpassen will. Rösler ist das Gesicht einer neuen FDP, die sich nicht mehr nur um Westerwelles Leistung-muss-sich-lohnen-Publikum kümmern will, sondern um die "Alltagsprobleme der Menschen", wie es jetzt plötzlich überall heißt. Die FDP soll nicht mehr nur eine Klientel- und Atompartei sein.

Es sind atemberaubende Verschiebungen, die derzeit wie im Zeitraffer das deutsche Parteiensystem erschüttern. Der Kurswechsel der Liberale ist nur der sichtbarste Beleg eines Rennens der Parteien in Richtung eines gesellschaftlichen Mainstreams, bei dem man den Eindruck gewinnt, dass es allen kaum schnell genug gehen kann. Selbst jahrzehntelange, ideologisch hoch aufgeladene Konflikte, die wie der Kampf um die Kernkraft die Geschichte der Republik und die Markenkerne der Parteien geprägt haben, beginnen unter dem Druck der Realpolitik zu implodieren. Die Republik scheint sich nach der Atomkatastrophe von Fukushima in einer Ausnahmesituation zu befinden, in der man wie Kaiser Wilhelm II. nach Kriegsbeginn 1914 keine Parteien mehr kennt, sondern nur noch Deutsche.

Untergang in der Konsenssoße

Und die Parteien, sie kennen nur noch die Mitte. Den Schwenk, den die FDP jetzt vorhat, um sich einen sozialeren und ökologischeren Anstrich zu geben, hat die CDU schon vor Jahren begonnen, als Parteichefin Angela Merkel sich daran machte, in der Gesellschafts-, Umwelt- und Wirtschaftspolitik das Konservative auszumisten. Von den großen Ideologen in der Union ist nach zehn Jahren Merkel keiner mehr da. Ihre Leute stehen wie Umweltminister Norbert Röttgen für eine moderne, ergrünte, bei Bedarf auch sozialdemokratisierte CDU. Auf der anderen Seite des Parteienspektrums ist kaum noch festzustellen, was überhaupt das Alleinstellungsmerkmal der Grünen ist - jetzt, wo alle gegen Atomkraft sind und die Grünen längst in den bürgerlichen Milieus ihre stärkste Anhängerschaft haben. Auch die SPD, die sich immer noch als "linke Volkspartei der Mitte" versteht, betont in letzter Zeit wieder mehr die "Mitte" als das "links". Und was ist passiert, wenn Grüne und linke SPD-Mitglieder wie Heidemarie Wieczorek-Zeul eine schwarz-gelbe Bundesregierung dafür attackieren, dass sie sich an einem internationalen Militäreinsatz gegen Libyen nicht beteiligt hat?

Die ideologischen Unterschiede zwischen links und rechts scheinen zunehmend unterzugehen in einer Konsenssoße. Nicht nur in der Energiepolitik, auch in der traditionellen Kampfzone der Bildungspolitik bewegen sich die Parteien aufeinander zu. Wer Alternativen jenseits des Mainstreams will, wird bei den herkömmlichen Parteien immer seltener fündig. Auch dies ist eine Erklärung für den gewaltigen Erfolg eines Provokateurs wie Thilo Sarrazin, der nicht zuletzt deshalb so viel Zustimmung aus der Bevölkerung bekam, weil er nahezu die gesamte etablierte Politik gegen sich hatte. Dies ist der Boden, aus dem Protestparteien wachsen können - ähnlich wie in früheren Jahrzehnten, als die Einigkeit zwischen den Parteien zu groß wurde und Wissenschaftler bereits vor dem "Verschwinden der Opposition" warnten. Die Grünen würde es nicht geben, wenn die SPD schon lange vor Tschernobyl gegen die Atomenergie gekämpft hätte. Auch die Partei Die Linke ist das Resultat eines großen Parteienkonsenses in der Sozialpolitik.

Zum Verschwimmen der inhaltlichen Unterschiede passt das politische Spitzenpersonal, Politikertypen, die ihren Job nicht mehr in großen ideologischen Auseinandersetzungen sehen, sondern unaufgeregt betreiben. Ob der Grünen-Wahlsieger Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg, Hamburgs SPD-Bürgermeister Olaf Scholz oder Verteidigungsminister Thomas de Maizière von der CDU - sie alle stehen für einen nüchternen Politikertyp, der wie auch Kanzlerin Merkel zu einer entideologisierten Republik passt. "Das ist Politik als Handwerk und nicht als große Götterschlacht", sagt der Düsseldorfer Parteienforscher Ulrich von Alemann. Dazu gehört auch, dass Kretschmann wie auch Scholz in ihren Wahlkämpfen Positionen vertreten haben, die für die CDU kein Teufelszeug sind - zumindest jetzt, wo auch sie für den schnellstmöglichen Atomausstieg eintritt.

Bei allen Verschiebungen im Parteiensystem gibt es vorerst allerdings einen stabilisierenden Faktor, und das sind die traditionellen Lager. In der Atomfrage hat Schwarz-Gelb jetzt festgestellt, dass ein blitzartiger Schwenk in einer Sachfrage selbst in einer Ausnahmesituation wie nach der Reaktorkatastrophe kaum zu vermitteln ist und auf großes Misstrauen stößt. Umso schwerer ist ein absoluter Schwenk in Machtfragen, also etwa bei der Frage nach künftigen Koalitionspartnern. "Ein schwarz-grünes oder Jamaikabündnis ist an der Basis der Grünen auf absehbare Zeit nicht vermittelbar", sagt Parteienforscher Alemann. Das gilt selbst dann, wenn nach jahrzehntelanger Gegnerschaft das große Streitthema Atom künftig wegfallen sollte. Umgekehrt kann auch die SPD nicht so bald auf sozialliberale oder Ampelbündnisse mit der Rösler-FDP schielen, um ihre Machtoptionen zu erweitern, nachdem sie die Liberalen bis vor Kurzem noch als "radikale Partei" attackiert hat.

Auch wenn die Zeit der großen Polarisierung in der deutschen Politik erst einmal vorbei scheint - die totale Beliebigkeit hat noch nicht begonnen.

FTD