Zwischenruf Ärztin oder Krankenschwester

Die Union hat viel, sehr viel falsch gemacht im Wahlkampf - doch ihren plötzlichen Absturz erklärt nur ein Umstand: Sie hat eine Frau ins Rennen geschickt. Aus stern Nr. 41/2005

Rational ist der Absturz rasch erklärt. Zu viel Verstand. Zu wenig Herz. Zu viel Reform. Zu wenig Konservatives. Zu viel Ehrlichkeit. Zu wenig Soziales. Zu viel Kirchhof. Zu wenig Merz. Zu viel Verrat an dem Professor. Zu wenig Beistand für den Visionär. Zu viel Stoiber. Zu wenig Unterstützung der starken Männer. Zu viel Amerika. Zu wenig Osten. Zu viel Umfrage-Gläubigkeit. Zu wenig Wahlkampf-Dramaturgie. Zu viel Bravheit. Zu wenig Zuspitzung. Zu viel, zu wenig - eine einzige Katastrophe, der Wahlkampf der Union. Kein Wunder, dass er schief ging.

Kein Wunder? Wäre das alles, das "Zuviel" und "Zuwenig", es wäre messbar gewesen. Es hätte sich niedergeschlagen in den Umfragen. Doch die täuschten Stabilität vor für die Union, jenseits der 40 Prozent, bis zum Wahltag. Nicht die SPD hat überrascht mit ihrem Ergebnis; das lag exakt am oberen Rand dessen, was ihr die Demoskopen zugetraut hatten. Überrascht, und das ist ein schwaches Wort für das, was passiert ist, überrascht hat der Kollaps der CDU/CSU. Sie hat verloren, überall. Im Westen, im Osten, im Norden, im Süden. Rund zweieinhalb Millionen Unionsanhänger, hat der Meinungsforscher Manfred Güllner errechnet, blieben zu Hause am Wahltag (weitere eineinhalb Millionen, aber das ist hier zu vernachlässigen, machten ihr Kreuz bei der FDP). Ohne Vorwarnung. Ohne dokumentierte Begründung.

Eine derartige Entladung, einen solchen Zusammenbruch von der Plötzlichkeit und Gewalt einer Naturkatastrophe hat es noch nicht gegeben in der deutschen Wahlgeschichte. Es muss ein tabuisiertes, ein schamhaft verheimlichtes Motiv dafür geben. Einen beschwiegenen Faktor, den es früher nicht gab. Es ist der Faktor Frau. Im konkreten Fall auch noch in verschärfter Form: Frau aus Ostdeutschland. Und dies ist, was die Motivforschung angeht, nicht sauber voneinander zu trennen. Relevante Teile der Wählerschaft, aber auch der politischen Eliten, und darauf kommen wir noch, sträuben sich gegen eine Frau im Kanzleramt. Aber bekennen sich nicht offen dazu, denn sie wissen, dass das gesellschaftlich Gebotene dies als vorgestrig, als inakzeptabel stigmatisiert.

Schon die schroffe Diskrepanz zwischen "Expertenurteil" und demoskopisch gemessener "Volksmeinung" nach dem Fernsehduell zwischen Gerhard Schröder und Angela Merkel hätte als Warnung dienen können. Sahen die professionellen Beobachter Merkel mindestens überraschend stark, kompetent, angriffslustig, wenn nicht gar als Siegerin, schlugen die demoskopischen Messungen ins glatte Gegenteil aus. Erste Erklärungsversuche des Unausgeleuchteten, etwa des Kommunikationsforschers Mathias Kepplinger, vermuten einen heftigen antifeministischen Affekt. Demnach können es vor allem ältere Frauen und einfach strukturierte Männer nicht ertragen, wenn ein Mann mit virilem Wolfs-Charme von einer Frau mit gedanklicher Schärfe unter Druck gesetzt wird.

In der politischen Klasse ist das Irrationale nicht weniger verbreitet. Schröders denkwürdiges Coming-out als kleiner Diktator in der "Berliner Runde", seine Weigerung, dieser Frau zu weichen, war nicht weniger affektgeladen als Volkes Urteil nach dem Duell. Wäre er einem Mann gegenüber so aufgetreten? "Wir müssen die Kirche doch mal im Dorf lassen", sollte nicht weniger heißen als: Wir wollen doch mal dabei bleiben, was wir kennen und schätzen - mächtige Männer machen es einfach besser.

Ältere Frauen und schlichtere Männer können es nicht ertragen, wenn ein Mann mit Wolfs-Charme von einer Frau unter Druck gesetzt wird

Schon die Thematisierung der Kinderlosigkeit Merkels im Wahlkampf durch Schröders Frau Doris zielte darauf, die Frau in der Gegnerin zu treffen. Sie als Neutrum zu verleumden, hatte im Wahlkampf der üblen, hinter vorgehaltener Hand geflüsterten Parolen durchaus Methode: "das Merkel", liebten manche zu sagen. Unionsmänner drücken das nichtöffentlich anders, aber nicht weniger eindeutig aus: Merkel als Ärztin, die eine Operation Schnitt für Schnitt ausführe, könne er sich gut vorstellen, meinte einer, aber Merkel als Krankenschwester, die am Bett Händchen halte, weniger.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Männerträume, Männerängste. Auf parteiübergreifende Frauensolidarität ist da kaum zu hoffen. Neidimpulse werden streng rationalisiert. Etwa wenn Heidi Wieczorek-Zeul erklärt, "der Name Merkel" stehe für "Abbau sozialer Gerechtigkeit" - warum solle man sie also zur Kanzlerin einer großen Koalition wählen? Roland Koch, der ansonsten inbrünstig verteufelte Hesse, wäre offenbar leichter zu wählen. Hauptsache, keine Frau - der anderen.

Die Affekte machen den Fall zum gesellschaftlichen Auftrag. Scheiterte Merkel, weil sie Frau und Ostdeutsche ist, wäre der Schaden nachhaltig. Ostdeutsche blieben Marzipankirschen auf der westdeutschen Politiktorte. Und eine Frau aufzubieten, wenn es um alles geht, um die Macht, würde sich lange keine Partei mehr getrauen. Eine Chance, die Deutschen zu bekehren, hat nur eine Frau selbst - eine Frau an der Macht.

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Hans-Ulrich Jörges