Zwischenruf Kaltblütig, Kanzlerin!

  • von Hans-Ulrich Jörges
Angela Merkel wurde heftig attackiert, in Europa wie in Deutschland, weil sie zögerte im Kampf gegen die Krise. Doch es war klug, das Pulver trocken zu halten - und nun, im Januar, eine gemeinsame Kraftanstrengung mit Barack Obama zu wagen.

Sie war "Madame Non", "Angela Mutlos" und die "Zauder-Fürstin". Sie hat sich Europa verweigert, das den Big Spender suchte. Sie hat den Medien widerstanden, die ihre Rat- und Tatenlosigkeit aufspießten, die historische Herausforderung mit der Helmut Kohls am Vorabend der deutschen Einheit verglichen. Sie hat das Murren der CDU und das Scharren der CSU ertragen, die ihre Frontfrau unsicher, witternd und scheinbar schwach erlebten.

Angela Merkel hat ihre erste große Krise durchlebt am Ende des zurückliegenden Jahres. Die Wochen zwischen Finanz- und Konjunkturkrise wurden ihr Niemandsland. Verloren wirkte sie da, tastend, suchend. Das Management in den dramatischen Tagen, als die Finanzmärkte kollabierten und die Welt taumelte, war präzise, kühl und zupackend. Die Deutung aber, die intellektuelle Aufarbeitung, war dürftig. Die Worte, die sie fand für das Unerhörte, nicht für möglich Gehaltene, tönten blechern, unangemessen, technokratisch.

Auf den Begriff gebracht hat sie die große Krise nicht, das Scheitern des Kasino-Kapitalismus. Und das Abkippen der Wirtschaft nicht gestoppt mit dem ersten Konjunkturpaket, das so genannt wurde, aber dem Zweck kaum diente, weil es mit blutigen Fingern genäht war aus längst Beschlossenem, von Karlsruhe Diktiertem und eilig Geschnipseltem.

Niemand wusste, was angemessen wäre

Alle wussten, auch sie, dass das nicht genügte. Aber niemand wusste auch - die hyperventilierenden Experten zumal, deren Rechenprogramme in den Konjunkturinstituten solches noch nie zu bewältigen hatten -, was denn genug und angemessen wäre, um das näher rückende Unheil, das Unkalkulierbare, ja das Unheimliche abzuwenden.

Sie tat lieber nichts - statt das Falsche zur falschen Zeit.

Alles auf eine Karte, in Washington und Berlin - das ergibt politisch wie ökonomisch Sinn

Also tat sie lieber nichts - statt das Falsche zur falschen Zeit. Schwerhörig schien sie, schwerblütig. Aber rückblickend kann man das auch ganz anders beurteilen: als kaltblütig.

Denn es war richtig. Instinkt und Verstand haben die Kanzlerin nicht verlassen. Wie Peer Steinbrück, ihren Finanzminister, ohne den sie den Kurs nicht halten, das Trommelfeuer daheim und in Europa nicht hätte überstehen können. Es wäre falsch gewesen, Milliarden zu verschleudern, in einem atemlos geschnürten zweiten Konjunkturpaket, noch im alten Jahr, noch bevor das erste überhaupt das Parlament passiert hatte. Steinbrück hat ja recht: Die Briten haben mit einer marginalen Mehrwertsteuersenkung Milliarden verpulvert und den Staat in Schulden gerissen, ohne den Konsum merklich zu beleben. Solche Munition verschießt man nur einmal. Für eine zweite Salve reicht es dann nicht mehr.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Berlin wartet auf Obama. Und das ist klug so. Am 20. Januar kommt er ins Amt - mit einem in Ruhe vorbereiteten, mutmaßlich atemberaubenden Programm gegen die Rezession. Mitte Januar will die Große Koalition das eigene Paket schnüren. Alles auf eine Karte, in Washington und Berlin - das ergibt politisch wie ökonomisch Sinn. Politisch, weil die Welt, auch Deutschland, nicht mehr ohne Obama gedacht werden kann. Die Zeiten eines schwachen, für Europa geradezu irrelevanten amerikanischen Präsidenten sind vorüber. Daran werden wir uns gewöhnen müssen.

Die Psychologie muss stimmen

Auch die deutsche Politik muss fortan mit Obama gedacht werden, in jeder Hinsicht. Für Angela Merkel könnte das bedeuten, dass sie von der ersten in die zweite Reihe der Weltpolitik rückt. Der Mann beansprucht nicht nur die Führungsrolle, er hat sie. Ökonomisch in dieser Lage ganz gewiss. Dass Deutschland als größte Exportnation sein Programm mit dem der USA verknüpft, es national ergänzt oder womöglich gar Wettbewerbsnachteile korrigiert, etwa für die Autoindustrie, ist nur folgerichtig. Die Rezession abzuwenden kann den Regierungen nicht gelingen, sie abzufedern dagegen wohl. Dafür aber muss wenigstens die Psychologie stimmen - die Psychologie einer konzertierten Kraftanstrengung.

Der Rest ist gesunder Menschenverstand, Koalitionsgeschäft und - realistisch betrachtet - Wahlkampfkalkül. In Berlin kann daraus ein Mix aus Sanierung (von Schulen und Straßen), Innovation (in Breitbandkommunikation, Ökotechnik und moderne Autos), Steuererleichterungen (vor allem für kleine und mittlere Einkommen) und Konsumhilfen (zumindest für Habenichtse) entstehen. Jede Regierungspartei hätte etwas davon - wie die Große Koalition als Ganze, die nicht zufällig auch in ihre eigene Zukunft investiert.

Den größten Schnitt aber kann dabei Angela Merkel machen, sofern sie die Operation geschickt inszeniert und Obamas Energie zu nutzen weiß. Denn die Deutschen blicken der Rezession bislang ebenso kaltblütig entgegen wie sie. Fast zwei Drittel bekunden ihr zur Jahreswende Vertrauen - und setzen sie auf Rang eins ihrer Favoritenliste. Das heißt nichts anderes als: Wir haben verstanden, Kanzlerin.

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