Zwischenruf Kippt der Kanzler?

Mit verminten Reformen will die Union die SPD-Linke wegsprengen und Gerhard Schröder zur Resignation treiben. Der könnte mit einem Schachzug antworten. Aus stern Nr. 47/2003

Stürzt Schröder vor Weihnachten? Kann ihn die Opposition zu Fall bringen? Will sie es überhaupt? Und welche Rolle ist der SPD zugedacht in dem dramatischen Machtspiel? Darum - und um nichts anderes - geht es in Wahrheit bei Steuern und Herbst-Reformen, die von der Union im Bundesrat zu einem einzigen Betonklotz vergossen worden sind. Wer sprengt ihn -und mit welchem Resultat?

Kanzlersturz ist das strategische Ziel. Mindestlöhne und Tarifverträge sind die taktischen Ansatzpunkte. Vorziehen der Steuerreform ? la Koalition starr gekoppelt an Arbeitsmarktreformen á la Opposition ergibt den Hebel. Die SPD-Linke in Machtverzicht aus Verzweiflung treiben ist die kalkulierte Wirkung. Denn nie wieder ist Schröder so schwach wie heute.

Aus dem Kohlenkeller ans Licht

Fällt er wirklich? Nun mal langsam. Und ein kritischer Blick auch auf jene Strategen, die sich zwar verabredet haben, den Hebel anzusetzen, aber durchaus unterschiedlicher Meinung sind, mit welcher Härte er zu bedienen ist. Schröders Interesse ist so klar, dass es wie ein Kinderspiel erscheint, es zu durchkreuzen. Der Kanzler hat nur dann noch eine Chance, aus dem Kohlenkeller ans Licht zu steigen und die Wahl 2006 zu gewinnen, wenn ein Konjunkturaufschwung als Beleg für den Erfolg seiner Reformen herhalten kann. Die vorgezogene Steuerreform ist dafür unabdingbar: Sie ist sein einziges Instrument, um den Konsum zu stimulieren und Depression in Zuversicht zu wenden.

Die Union bräuchte brillante Argumente, um das zu verweigern. Den Bürger zu frustrieren birgt bei 13 Wahlen im nächsten Jahr ein haarsträubendes Risiko. Also sabotieren CDU und CSU nicht die Steuerreform, sondern den Erfolg des Kanzlers. Indem sie ihre Zustimmung an Konditionen knüpfen, die ihn sofort die Mehrheit kosten können oder zu so bleiernen Hypotheken werden, dass er 2006 untergeht - verlassen von der SPD, als Verräter bekämpft von den Gewerkschaften.

Brüchige Loyalität der Linken

Bedingung eins: Langzeitarbeitslose und Sozialhilfeempfänger müssen Jobs auch unterhalb der ortsüblichen Entlohnung annehmen - das auf Druck der SPD-Linken aufgespannte Netz wird wieder eingerollt. Bedingung zwei: Der Flächentarifvertrag wird durch betriebliche Bündnisse für Arbeit unterspült. Kämen Schröders Reformen vor Weihnachten derart vermint aus dem Vermittlungsausschuss zur Schlussabstimmung in den Bundestag zurück, ginge es um den Kopf des Kanzlers. 298 Stimmen braucht er im widrigsten Fall für eine eigene Mehrheit; 306 haben SPD und Grüne. Schröder will den Schwur - trotz brüchiger Loyalität der Linken um Ottmar Schreiner.

Schröder würde Clement zur Kanzlerwahl im Parlament aufbieten

Die Interessen der Unions-Strategen zerfasern indes an diesem Punkt. Edmund Stoiber will es wissen, jetzt: Er setzt auf Kanzler-Rücktritt und Neuwahlen - es wäre vermutlich seine letzte Chance auf die Kanzlerkandidatur. Roland Koch, der Hesse, ist strategischer Partner Stoibers: Die Kanzlerschaft des Bayern würde den Aufstieg der Rivalin Angela Merkel stoppen - und ihm die Option öffnen auf die Nachfolge Stoibers. Merkel hingegen plant für ihre eigene Kanzlerkandidatur 2006 - ein überlebender, aber geschwächter Kanzler passte perfekt in ihr Kalkül. Denn Schröder hätte mit dem Vorwurf unsozialer und gewerkschaftsfeindlicher Politik aus den eigenen Reihen zu kämpfen - den SPD-Attacken gegen Merkels radikale Reformkonzepte wäre die Spitze genommen.

Und dann Neuwahlen?

Und Schröder? Wie es aussieht, will er alles auf eine Karte setzen. Verfehlte er eine eigene Mehrheit, träte er wohl umgehend zurück - mit der Geste des unbeugsam an seiner illoyalen Partei gescheiterten Reformkanzlers. Ein Heldenepos fürs Geschichtsbuch. Und dann Neuwahlen? Und Machtwechsel? Hier führt die Dramaturgie in die Irre. Die SPD mit ihrem historisch schlechtesten Ergebnis in den Abgrund 20-jähriger Opposition zu stoßen, das vertrüge sich ganz und gar nicht mit Schröders Selbstbild. Seine Partei würde ihn ewig verfluchen als Verderber der Sozialdemokratie.

Also würde er postwendend Wolfgang Clement zur Kanzlerwahl im Parlament aufbieten - und die SPD-Linke in ein fürchterliches Dilemma stürzen. Wählte sie Clement, hätte sie sich einen noch härteren Reformkanzler eingehandelt. Ließe sie ihn durchfallen, wäre sie für den historischen Machtverlust, vielleicht gar den Untergang der Partei verantwortlich. Das müsste ihr schon vor dem Votum über die Reformgesetze klar sein. Wenn Schröder stürzt, dann nicht über die Union, sondern über die SPD. Bleibt also die Frage: Ist die Linke nicht nur empörungs-, sondern auch denkfähig?

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Hans-Ulrich Jörges