Zwischenruf Runter von den Barrikaden

Die deutsche Außenpolitik hat sich im Irak-Krieg verrannt. Höchste Zeit, den Irrweg zu verlassen - sonst dient sie auch noch den Falken in Amerika. Aus stern Nr. 17/2003

Die Wasserscheide dieses Krieges lässt sich auf die Minute genau bestimmen. Am 9. April um 16.48 Uhr unserer Zeit, als in Bagdad die erste Statue des entmachteten Diktators vom Sockel gerissen wurde und die euphorisierende Symbolik zu einem unvergänglichen Bild dieses jungen Jahrhunderts gerann, in diesem Moment hat die Nachkriegszeit begonnen. Seither hat der Krieg ein zweites Gesicht: neben dem des völkerrechtswidrigen Angriffs auch das geglückter Befreiung. Und von Sekunde an flossen die Strömungen der Politik in eine andere Richtung, unaufhaltsam.

Für die deutsche Politik muss diese Erkenntnis umwälzende Folgen haben. Das zweite Gesicht des Krieges zu verdrängen oder gar zu leugnen würde nicht nur die moralische Erosion rot-grüner Prinzipien bedeuten. Alarmierender noch und von historischem Gewicht wäre die Zementierung der vor dem Krieg hastig und mit dem Zorn der Gerechten aufgerichteten Barrikaden gegen den Ansturm der ultrakonservativen Weltneuordner in Washington. Das heißt weder Kapitulation vor den Siegern noch Abschwören von dem nur allzu begründeten Widerstand.

Klugheit statt Empörung

Ganz im Gegenteil. Es heißt Einsicht in fundamentale eigene Fehler, die jene Strategen kriegerischer Alleingänge geradezu begünstigen - denn nichts dient ihrem Einfluss und ihren Plänen mehr als ein abseits stehendes "altes" Europa. Es heißt Rückkehr zu überlegter, professioneller Außenpolitik, die ihnen in den Arm fällt. Und es heißt Wechsel von gut gemeinter, aber ohnmächtiger zu gut gemachter und damit wirkungsvoller Bündnispolitik. Auf eine Formel gebracht: Klugheit schlägt Empörung, diskrete Diplomatie öffentlichen Schlagabtausch, kühl kalkulierte Einmischung verbockte Rechthaberei. Geradezu absurd der schrille Streit, ob die UN nun im Irak eine "vitale" oder eine "zentrale" Rolle spielen sollten.

Fischers Traum vom ersten Außenminister Europas ist wohl ausgeträumt

Es geht um nicht weniger als die Rückkehr Deutschlands in die Welt. Und in seine Bündnisse. Denn was Gerhard Schröder und Joschka Fischer - in bester Absicht, aber mit spielerischer Tollkühnheit - an neuer außenpolitischer Linie entworfen haben, führt ins Aus: die Achse Paris-Berlin-Moskau ebenso wie eine Verteidigungsunion mit Frankreich, Belgien und Luxemburg. Beide Projekte sind ein europäisches Verhängnis. Sie bilden verwirrende Parallelstrukturen heraus, die EU wie Nato lähmen. Nicht allein, dass die Achse an einem Ende, am russisch-tschetschenischen, blutbesudelt und damit moralisch brüchig ist. Sie ist auch ein Albtraum für viele Partner und spaltet den Kontinent, was man in Berlin nun offenbar zu begreifen beginnt.

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick

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Vertrauen in Kerneuropa?

Soll das in der Geschichte so oft überrollte, geschundene und zerstückelte Polen etwa Vertrauen entwickeln zu diesem Bündnis der Nachfahren Napoleons, Hitlers und Stalins? Sollen die Polen, die Tschechen und die Ungarn, die es unter den Schirm der Nato und zum Wohlstand der EU drängt, neuen Allianzen einen Reiz abgewinnen, die eben jene ersehnten schwächen? Sollen zudem die kleinen westeuropäischen Länder an einem Kerneuropa Geschmack finden, das von Deutschen und Franzosen arrogant beherrscht wird? Welche Zukunft könnte einem skurrilen Militärbündnis von Deutschen, Franzosen, Luxemburgern und Belgiern prophezeit werden, für das schon ein Regierungswechsel in Deutschland den Zerfall bedeuten würde? Und was nützte eine Europaarmee, wenn die europäischen Regierungen in Krisen wie der um den Irak keinen gemeinsamen politischen Willen artikulieren können?

Die Mehrheit der alten wie der neuen Mitglieder von EU und Nato lehnen den deutsch-französischen Traum von europäischer Gegenmacht zu den USA entsetzt ab. "Ich akzeptiere das nicht, ich brauche keine europäische Außenpolitik", sagt Tschechiens Präsident Vaclav Klaus und spricht für viele. Der Traum vom ersten europäischen Außenminister in Gestalt Joschka Fischers ist damit wohl ausgeträumt. Seine jüngste Israelreise wirkte schon wie die Flucht eines Einsamen auf eine Insel der Freunde.

Die deutsche Außenpolitik muss zurückkehren zu den Maximen, die sie so lange selbst beschworen hat: Berechenbarkeit und Engagement für die Interessen der kleinen wie der neuen EU-Staaten. Tony Blair und Colin Powell, der amerikanische Außenminister, zimmern an einer neuen Brücke zu den USA, beide wollen zudem die Vereinten Nationen wieder ins Spiel bringen gegen die kriegerischen "Chickenhawks" in Washington. If you can‘t beat them, join them!

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Hans-Ulrich Jörges