Zwischenruf Saison der Sandmänner

Haben die Parteien endlich begriffen? Ihre Reformpapiere sind bloß Blendwerk für den Wahlkampf - doch langsam, ganz langsam kommt etwas in Bewegung... Aus stern Nr. 4/2003

Wo, bitte, bleibt das Positive? Ach, wir sehnen uns doch alle so nach Labsal in der Dürre deutscher Politik! Also wollen wir uns umschauen und ein wenig Hoffnung saugen aus den Blüten dieser Tage. Und davon gibt es ja nicht wenige, mitten im Winter der großen Krise. Beschnuppern wir also die vielen reformduftenden Papiere, welche die Parteien in Klausuren geheckt haben wie die Karnickel Junge: eine "Wiesbadener Erklärung" (SPD), eine "Göttinger Erklärung" (CDU), eine "Wörlitzer Erklärung" (Grüne), einen "Fünf-Punkte-Plan" (CSU) - allesamt zu nichts Geringerem als zur Rettung Deutschlands.

Wie denn, eine Verschwörung der Vernünftigen, nach dem alten Wahlspruch des Kanzlers: Erst kommt das Land, dann die Partei? Na ja. So denn nun auch nicht. Bei näherem Beriechen ist doch eher alles, wie es immer war: Erst kommt der Wahlkampf, dann das Land. In Hessen und noch mehr in Niedersachsen geht?s am 2. Februar eben um Macht oder Ohnmacht der Bundesregierung - und Wahlkampf ist nun mal die Saison der Sandmänner. Da wird mit der Schaufelhand tief in die Kiste gegriffen und der Sand der edelsten Absichten in die Augen des Publikums gestreut.

Feinster Wahlkampf-Sand

Wer ihn sich herausreibt, erkennt: hektischer Stillstand. Alte Parolen, angestaubte Programme - remixed. Und lebendfrisch serviert von journalistischen Kellnern, die allzu oft das Gedächtnis verloren haben - oder es gern ausschalten. Beispiel Regierung: In Wiesbaden blasen die Sozialdemokraten nicht etwa bloß zur Offensive, nein zur "Groß-Offensive" für den Mittelstand. Kannten wir schon, einiges noch aus der Zeit des Wirtschaftsministers Werner Müller. Feinster Wahlkampf-Sand, wie der Steuernachlass für Unternehmer - bis zu 17 500 Euro Jahresumsatz. Macht im Monat exakt 1458 Euro und 33 Cent. Famose Mittelständler! Fahrradkuriere vielleicht oder fliegende Blumenhändler. Aber das ganze PR-Unternehmen darf ja bloß 60 Millionen kosten, mehr will Hans Eichel partout nicht rausrücken. Das glitzernde "Strategiepapier" aus dem Kanzleramt, zu Weihnachten aus dem Fundus der aufgelösten Grundsatzabteilung zusammengeleimt, um verwegene Reformkraft zu beweisen - in Wiesbaden wollte man damit lieber keine Unruhe mehr erzeugen.

Beispiel Opposition: Die "Göttinger Erklärung" der CDU transportierte nicht mehr als die zu Thesen sortierten Allgemeinplätzchen, die Angela Merkel schon eine Woche zuvor per Rundbrief an ihre Abgeordneten verschickt hatte. Eine "neue Dimension der Politik" verspricht der Hesse Roland Koch, verlässliche Kooperation mit Rot-Grün. Na klar, wenn die CDU Landtagswahlen gewinnen will, ist sie gut beraten, jede Drohung zu vermeiden, die depressiv gewordene SPD-Anhänger erregt zu den Urnen treiben könnte. Ruhig Blut, ihr Sozen, ruft also Herr Koch, wir lassen euch nicht verkommen. Und meint: Kein Grund zur Besorgnis, ihr könnt zu Hause bleiben!

Und die Perspektiven sind so düster

Im Übrigen: Was sollte die Union auch anderes tun? Neuwahlen im Bund erzwingen kann sie nicht, selbst wenn sie in Hessen und Niedersachsen siegt; eine große Koalition unter Schröder scheut sie, denn die CSU will im Herbst ihre Bayern-Wahl gegen Berlin gewinnen. Konzepte zur Reform der Sozialsysteme hat sie ohnehin so wenig parat wie Rot-Grün. Und die Perspektiven - Irak, Konjunktur - sind so düster, dass man sich vielleicht auch nicht unbedingt reißt ums Kanzleramt.

Die Regierung behauptet sich, lautet die neue Einsicht der Union

Ach, genug jetzt! Verdammt, wo bleibt das Positive? Zunächst mal, und das ist nicht wenig: Die Union ist realistisch geworden, ein lähmender K(r)ampf um Neuwahlen nach dem 2. Februar bleibt uns wohl erspart. Die Regierung wird sich behaupten, lautet die neue Einsicht: Tritt Eichel zurück, könnte ihn Sigmar Gabriel ersetzen. Wagt die SPD den Kanzlerwechsel zu Wolfgang Clement, wird er gelingen. Mitregieren will man nun über den Bundesrat: Rot-Grün über die schwarzen Reformstöckchen springen lassen. Wollen?s mal glauben. Wir suchen ja das Positive.

Apropos Reformen: In allen Lagern beginnen die Ingenieure am Umbau der Sozialsysteme zu basteln. Die Blaupausen liegen nah beieinander: niedrigere Beiträge, höhere Eigenvorsorge, Ergänzung durch Steuern. Die nächste Mehrwertsteuer-Erhöhung ist schon reserviert dafür. Nicht erst im Herbst, bis zum Sommer soll der Wettstreit der Ideen öffentlich werden. Jetzt (erst) beginnen die wahren Koalitionsverhandlungen zwischen Rot und Grün. Motto: Der Lokomotive bei voller Fahrt in enger Kurve die Räder wechseln. Ist das nichts Positives?

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Hans-Ulrich Jörges