Manchmal ist Politik wie Schach. Ein einziger brillanter Zug klärt das Kräfteverhältnis auf dem Brett - und das Spiel lässt sich in seiner zwingenden Logik, mit allen alternativen Zügen, bis zum Ende kalkulieren. Guido Westerwelle, der notorisch Geringgeschätzte, hat in diesen Tagen mit einem ungemein klugen Zug das bislang wirre Spiel um die Wahl des Bundespräsidenten entschieden. Nun beherrscht Horst Köhler das Feld, unschlagbar. Tritt er an zur Wiederwahl, am 23. Mai 2009, nicht mal ein halbes Jahr vor der Bundestagswahl, wird er eine komfortable Mehrheit finden, selbst wenn Union und FDP in der Bundesversammlung keine eigene Mehrheit auf die Beine bringen sollten. Darauf kommt es nicht an. Nun nicht mehr. Dass Köhler noch einmal kandidieren möchte, darf als gesichert angenommen werden, auch wenn er sich demnächst erst offiziell erklärt. Denn der FDP-Chef hat mit ihm gesprochen, drei Tage bevor er mit seinem Vorschlag zur Wiederwahl an die Öffentlichkeit trat. Köhler in eine solche Debatte zu treiben, ohne ein Signal erhalten zu haben, wäre eine grobe Ungehörigkeit. Westerwelle, Inbegriff bürgerlicher Höflichkeit, zeigt dazu keinerlei Neigung.
Er hat Köhler den Weg bereitet. Indem er den Mann der Union zum Kandidaten der Liberalen erklärte. Ihn ins Blaue hinein kandidieren zu lassen, wäre eine Zumutung für Köhler gewesen. Hätte Angela Merkel ihn benannt, weil das Machtspiel um einen anderen Kandidaten unkalkulierbar ist, wäre Widerstand in der SPD riskiert worden. Westerwelle aber sichert nun die Zustimmung der Sozialdemokraten. Ein genialer Schachzug.
Denn die Not der SPD wird zur Stärke des Präsidenten. Westerwelle schöpft daraus Kraft für sich selbst, versetzt die Liberalen in eine machtpolitische Schlüsselstellung und demonstriert die neuen Chancen umworbener Kleinparteien im Fünfparteiensystem. So gesehen ist die Causa Köhler ein Lehrstück. Schickten die Sozialdemokraten einen eigenen Kandidaten ins Rennen, etwa die schon einmal unterlegene Hochschulpräsidentin Gesine Schwan, liefe das auf einen Kampf der Lager in der Bundesversammlung hinaus: Schwarz-Gelb gegen Rot-Rot-Grün. Westerwelle könnte auch das recht sein - denn er setzt zuerst auf eine "bürgerliche" Koalition nach der Bundestagswahl 2009 -, nicht aber der SPD. Für sie wäre das Risiko zu hoch. Sie würde va banque spielen.
Rechte Sozialdemokraten wählen aus Protest Köhler
Scheiterte die SPD nämlich in der Bundesversammlung, wäre das ein verheerender Rückschlag, ein Fiasko kurz vor der Bundestagswahl. Und dieses Scheitern wäre zu gewärtigen. Wegen des Ypsilanti-Effekts. Weil sich rechte Sozialdemokraten dem Bündnis mit der Linken verweigern und aus Protest Köhler wählen. Kurt Beck, der ohnehin ein enormes Glaubwürdigkeitsproblem hat, könnte zudem niemandem weismachen, dass er bei der Präsidentenwahl zwar auf die Linke baut, nach der Bundestagswahl aber unter keinen Umständen ein Bündnis mit ihr eingehen will. Das ganze Land würde ihn dafür auslachen. Solches Gelächter kann töten.
Der Mann der Union ist zum Kandidaten der FDP geworden.
Köhlers Wahl mit den Stimmen der SPD schlägt die Brücke zu einer Ampelkoalition, die Beck erträumt
Nur das umgekehrte Kalkül macht Sinn: Die Wiederwahl Köhlers an der Seite von Union und FDP - womöglich sogar gegen einen Zählkandidaten der Linken - wäre wie ein Glaubwürdigkeitssiegel für die Absage der SPD an einen Linksblock. Geradezu ein Geschenk für Kurt Beck, falls der als Kanzlerkandidat anträte. Nominierte die SPD hingegen Frank-Walter Steinmeier als aussichtsreicheren Mann der Mitte, würde das dessen Chancen noch verbessern, denn Köhlers Wahl könnte ihn vom Odium des taktischen Vorzeigekandidaten der Linken befreien. Steinmeier übrigens hat schon 2007 im stern, als Erster in der SPD, Sympathien für eine zweite Amtszeit Köhlers bekundet.

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Für die SPD hielte das zum einen die Fortsetzung der Großen Koalition offen. Zum anderen aber, strategisch viel entscheidender, schlüge es die Brücke zu einer Ampelkoalition mit der FDP, die Beck erträumt - und für die sich Westerwelle gerade geöffnet hat. Der hätte dabei gleich zwei Bündnisoptionen untermauert: neben Schwarz-Gelb die Ampel mit SPD und Grünen. Wie es auch kommt: Westerwelle gewinnt.
Und mit ihm das Volk. Vier Fünftel der Deutschen stehen hinter Köhler, wollen eine zweite Amtszeit. Weil er Dorn im Fleisch der Parteien ist, CDU wie SPD mit seinem Drängen auf Reformen, seinem Widerstand gegen schlampige Gesetze, seinem eigenwilligen Kopf, seiner Verweigerung gegenüber Prinzipienlosigkeit bis aufs Blut gereizt hat. Auch und gerade Angela Merkel, die ihn trickreich ins Amt gehievt hatte und dabei zur "Physikerin der Macht" geworden war. Eigentlich wollten sie nicht mehr so recht, Union wie SPD. Nun, in den Turbulenzen des Fünfparteiensystems, wird er zum Mann der Kontinuität. Eine hübsche Volte der Geschichte.