Zwischenruf Trugbilder der Macht

Der Sturz Franz Münteferings beendet eine Ära autokratischer Herrschaft. Die Demokratie zeigt ihr sympathisches Gesicht - nicht nur in der SPD. Aus stern Nr. 45/2005

Dem Kollaps des Vertrauens der Menschen in die Parteien folgt der Kollaps des Vertrauens der Parteien in ihre Führungen. Und dem folgt der Kollaps der Egos in den Führungen der Parteien. Ist das ein Schaden für die Parteiendemokratie? Eine Katastrophe gar, die von einer Systemkrise kündet und die Menschen ernsthaft beunruhigen muss? Ach, woher. Katastrophal an der plötzlichen Abdankung Franz Münteferings sind Anlass und Zeitpunkt - das Scheitern eines starrsinnig verfolgten Personalvorschlags inmitten der Koalitionsverhandlungen -, aber weder der Vorgang selbst noch dessen Bedeutung für das Land. Im Gegenteil: Für Demokratie und Parteien, mithin für die Bürger und ihre politische Repräsentanz, ist das Desaster des Vorsitzenden Franz eine lehrreiche, eine heilsame, eine fruchtbare Wendung.

Denn nach Jahren der Entmündigung und der autokratisch anmaßenden Herrschaft von oben nach unten beginnt so etwas wie ein demokratischer Korrekturprozess. Die SPD lebt - äußert sich das auch zunächst nur durch reflexhaftes Zucken. Welche Entdeckung! Andrea Nahles sei Dank. Fünf Jahre lang hat einer, Gerhard Schröder, die Partei fast allein geführt und sie durch Basta-Rufe, Hartz-Diktate, Agenda-Predigten und erpresstes Vertrauen, je nach taktischem Bedarf, auf Linie gezwungen. Als es knirschte, folgten zwei Jahre undurchsichtiger Herrschaft von Gerd und Franz. Als auch das scheiterte, fielen Entscheidungen nicht mehr unter vier, sondern - Verzeihung für das groteske Bild, aber es kennzeichnet groteske Verhältnisse - nur noch unter zwei Augen.

Franz Müntefering genügte sich am Ende selbst, als er seinen Sekretär zum General befördern wollte und den Ratschluss nicht mal parteiöffentlich vortrug, sondern schriftlich in ein "Spiegel"-Interview hineinredigierte. Er versuchte, mit den Mitteln Schröders zu herrschen - aber er verkannte, dass er nicht dessen Format hat. Die SPD zeigte es ihm.

Das System der Machtausübung war so starr, dass es brechen musste, als es herausgefordert wurde. Da Müntefering die Größe nicht aufbrachte, ein demokratisches Votum zu akzeptieren, ist es besser, dass er geht. Er sollte ganz abtreten. Denn nun kann, nun muss sich eine Revolution der Parteienkultur Bahn brechen: Verjüngung, Diskussion und Machtausgleich sind ihre Ziele. Das stört die Selbstfindung der großen Koalition, aber es ist gut so. Und es erfasst längst nicht nur die SPD.

Die SPD lebt - äußert sich das auch zunächst nur durch reflexhaftes Zucken. Welche Entdeckung!

In allen Parteien haben wir es aktuell mit Trugbildern der Macht zu tun: flirrend, kurzlebig, wechselhaft. Zu Beginn des großkoalitionären Abenteuers war Angela Merkel noch die schwächste der Parteivorsitzenden, schier hoffnungslos ausgeliefert einem unheimlichen Duo: Franz Müntefering, dem mächtigsten SPD-Chef aller Zeiten, und Edmund Stoiber, dem rücksichtslosesten aller CSU-Elefanten im Prozellanladen der Union. Heute ist Merkel die stärkste, fast möchte man sagen: die einzige Überlebende der drei. Aber auch sie steht auf Treibsand - das unaufgearbeitete Wahldebakel, die verschütteten Radikalreformen, die untergründigen Affekte gegen die Frau aus dem Osten können sie jederzeit ins Rutschen bringen. Stoiber, der eingebildete Superminister im dramatisch überschätzten Amt, hat mit Müntefering seinen erträumten Partner verloren und sich selbst ins Niemandsland zwischen München und Berlin verirrt. Seine Autorität tendiert gen null. Bliebe er in Bayern, es wäre kein Verlust, eher das Ende eines Albdrucks.

Guido Westerwelle, wegen des komfortablen Wahlergebnisses scheinbar der unangefochtenste der Parteiführer, nutzte die Gunst der Stunde, um seinen Rivalen Wolfgang Gerhardt abzuräumen - doch belastbare Autorität hat er noch nicht gewonnen. Die Grünen haben die Macht nach Joschka Fischers Flucht in die Freiheit auf mehrere Köpfe verteilt - und Rangkämpfe der Zukunft programmiert. Die Linkspartei muss erst erproben, ob ihre fragile Doppelspitze und Doppelkultur von Ost und West der Belastung von parlamentarischer Praxis und sozialer Wirklichkeit standhält.

Keine Macht, nirgends. Selbst Querachsen vermögen vorerst keine Stabilität zu erzeugen. Angela Merkel ist erkennbar bemüht, ihren designierten Finanzminister Peer Steinbrück zum wichtigsten Partner aufzubauen. Die Wahl ist klug, denn Steinbrück agiert ähnlich unideologisch und zuweilen brutal zupackend wie sie selbst. Trägt diese Achse, bewegt sie die gesamte Koalition. Doch die Truppen der SPD befehligt Steinbrück noch weniger als sie die ihren. Wer erfolgreich regieren will, muss unter den höchst unübersichtlichen Verhältnissen der Berliner Republik nicht nur neu denken, sondern auch auf neue Weise lenken: Argumentation, Integration und Partizipation sind die einzig wirksamen Instrumente. Kein Grund zur Furcht, viel Anlass für Sympathie. Nicht mehr nur wenige, alle zählen jetzt. Überall und gleichzeitig. Die Demokratie besinnt sich. Saisonschluss für Egotrips.

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Hans-Ulrich Jörges