Ich weiß immer noch nicht, wo das enden soll": Der Seufzer spricht für intuitive Lebensklugheit - und er könnte zum Ausdruck unserer Zeit werden. Ein Reform-gestresster Sozialdemokrat hat ihn ausgestoßen, nach stundenlangem Ringen auf einer Regionalkonferenz seiner Partei. Alle, die sich dort an der rauen deutschen Wirklichkeit abkämpften - gleichgültig, auf welcher Seite der Barrikade -, hätten ihn formulieren können. Auch der Kanzler. Denn alle, die stoischen Realitätsverweigerer wie die zaudernden Sozialreformer, teilen ja die quälende Ahnung: Es wird wohl noch viel schlimmer kommen, als wir uns heute eingestehen. Die ganze Wahrheit ist längst nicht auf dem Tisch.
Diese Wahrheit ist einfach und bitter: Er ist aus, der Traum vom nie endenden Wohlstand in unerschöpflicher staatlicher Fürsorge. Und die großen Volksparteien, die ihre Berufung stets in der Verteilung der Zuwächse sahen, sträuben sich mit allen Fasern, dem Volk diese Diagnose in der notwendigen Brutalität zu offenbaren. Lieber verschreibt man Placebos: vier, fünf Reformpillen - und alles wird wieder gut. Bald. Nur ein wenig Geduld.
Keine Wachstumsmaschine mehr
Von wegen. Nichts wird rasch wieder gut. Sprechen wir ein paar Wahrheiten offen aus. Wahrheit eins: Die deutsche Wirtschaft ist keine Wachstumsmaschine mehr. Deutsche Firmen sind nur noch auf zwei Feldern Weltspitze: im Automobil- und im Maschinenbau; die aber haben ihre stürmischen Zeiten längst hinter sich. Die neuen Wachstumsbranchen - Computer, Handys, Biotechnologie, Entertainment - blühen woanders. Neue Arbeitsplätze? Eher noch weniger.
Wahrheit zwei: Es gibt Arbeit en masse in Deutschland, aber nicht zu den hier geläufigen Löhnen - folglich wuchert die Schwarzarbeit wie Unkraut im warmen Frühlingsregen. Dagegen gibt es nur ein Rezept: Arbeitskosten senken. Wahrheit drei: Kein Arbeitsloser kann künftig noch den Anspruch erheben, in seinem erlernten Beruf wieder Beschäftigung zu finden, er muss bewegt werden, den Job nach überschaubarer Frist zu wechseln - und weniger zu verdienen. Die Kürzung des Arbeitslosengeldes, die Absenkung der Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau verfolgen exakt diesen Zweck. Und: Sozialhilfeempfänger müssen unter Androhung der Verelendung zu Arbeit gezwungen werden.
Er ist aus, der deutsche Traum vom nie endenden Wohlstand
Wahrheit vier: Die arbeitenden Jungen können den Lebensstandard der Alten nicht länger garantieren, er sinkt tendenziell. Rente erst ab 67 Jahre wäre, da kaum jemand Beschäftigung in diesem Alter fände, nichts anderes als Rentenkürzung. Die Milliardenlawine der Beamtenpensionen wird dabei noch nicht einmal diskutiert; Pensionslasten und Schuldendienst werden - wenn nichts passiert - schon in wenigen Jahrzehnten die Staatshaushalte komplett auffressen. Wahrheit fünf: Die Staatskassen sind und bleiben leer. Wird das bürokratisch strangulierte Wirtschafts- und Sozialsystem nicht energisch dynamisiert, wird der Widerstand von Gewerkschaften und Verbänden nicht niedergekämpft, geht das Land den Weg in die Verarmung. Das Bildungssystem ist schon heute Schrott.

Das Wichtigste aus der Bundespolitik auf einen Blick
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Voodoo-Zaubereien
Die Politik aber wehrt sich mit Voodoo-Zaubereien gegen diese Erkenntnisse. Das Hartz-Konzept, vergangenes Jahr noch der Universalschlüssel zur Halbierung der Arbeitslosenzahl, war nicht mehr als eine Blendgranate. Auch Gerhard Schröders "Agenda 2010" wird keinen neuen Arbeitsplatz schaffen. Sie ist Flickwerk - und wirkt zudem erst voll im Jahre 2008. Dies heute zu verschweigen heißt die Probleme von morgen zu säen.
Gerhard Schröder hat sich seine schon gesät. Setzt er seine Agenda durch, klettert die Arbeitslosenzahl aber dennoch weiter, könnte 2004 sein Schicksalsjahr werden. Denn es bringt 13 Wahlen: von sechs landesweiten Kommunalwahlen im Frühjahr über die Europawahl im Juni bis hin zu Landtagswahlen in Brandenburg, Sachsen, Thüringen und im Saarland sowie Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg im Herbst. Was könnte da eine SPD gewinnen, die erneut die Hoffnung auf Arbeit enttäuscht, ihre eigene Klientel aber contre c?ur zur Gefolgschaft gezwungen hat? Und was bliebe von Rot-Grün, wenn am Ende dieses Jahres Joschka Fischer auch noch die ersehnte Flucht nach Brüssel in das Amt des ersten europäischen Außenministers gelänge? Ein Kabinett Schröder/ Trittin hätte jede Strahlkraft verloren.
Gut möglich, dass die SPD dann Schröders erpresserische Alternative "Ich oder der Machtverlust" umdreht in "Er und der Machtverlust - oder ein anderer". Es wäre der Augenblick der Wahrheit.