Ukraine Spinnt der Papst? Zwei stern-Reporter streiten über Friedens-Idee

Papst Franziskus bekreuzigt sich
Generalaudienz: Das Kirchenoberhaupt bekreuzigt sich
© Andrew Medichini/AP
Waffenruhe in der Ukraine? Der Vorschlag von Papst Franziskus irritiert. Ein Streit-Chat aus der stern-Redaktion zwischen einer Protestantin und einem Katholiken. 

"Wenn man sieht, dass man besiegt ist, dass es nicht gut läuft, muss man den Mut haben, zu verhandeln." Klingt wie ein Satz von Sahra Wagenknecht, stammt aber von Papst Franziskus. In einem Interview sagte das Oberhaupt der römisch-katholischen Kirche, "dass derjenige stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt, der den Mut der weißen Fahne hat, zu verhandeln." Moment mal, rät der Papst der Ukraine zur Kapitulation? 

Für die Ukraine würde das bedeuten, "sich kampflos ihren Schlächtern ausliefern", sagt stern-Chefreporterin und Protestantin Miriam Hollstein. stern-Autor und Katholik Rolf-Herbert Peters hält dagegen: Der Papst stehe den Opfern bei und all jenen, "die als nächstes dran sind, ohne den Krieg zu wollen."

Miriam Hollstein: Was ich bin gerade froh, keine Katholikin zu sein!

Rolf-Herbert Peters: Und ich bin froh, dass Du eine Protestantin bist, denn dann sollten wir ja als Christen in der Einschätzung von Kriegen nicht so weit auseinanderliegen.

Hollstein: Mein Konfirmationsspruch war aus der Bergpredigt. "Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen." Da sind wir uns wirklich einig. Aber damit ist nicht okay, dass der Papst die Ukraine auffordert, sich ihren Schlächtern kampflos auszuliefern.

Peters: Wo genau soll der Papst das denn gesagt haben? Er hat doch nur das Wort des Interviewers aufgegriffen, der von kriegsmüden Ukrainern spricht, die in ihrem unendlichen Leid den "Mut zur Kapitulation", zur "weißen Fahne" fordern. Ich würde mir auch wünschen, die Ukrainer könnten die Russen mit Jubelgeschrei aus dem Land jagen. Seit zwei Jahren wird uns eingebläut, das wäre leicht zu schaffen, wir müssten nur ausreichend Waffen liefern. Und trotzdem gerät die Ukraine immer stärker auf die Verliererstraße. Das spüren doch die meisten von uns, und auch immer mehr "Experten" sagen es. In dieser Lage sinniert der Papst: "Wenn man sieht, dass man besiegt wird, dass die Dinge nicht gut laufen, muss man den Mut haben, zu verhandeln. Du schämst dich, aber wie viele Tote wird es am Ende geben? Verhandle rechtzeitig, suche ein Land, das vermittelt." Ich finde das erst mal nicht verwerflich, sondern es ist ein Debattenbeitrag. Der war allerdings etwas schlampig formuliert, zugegeben.

Autorin Miriam Hollstein, Protestantin
Autorin Miriam Hollstein, Protestantin

Hollstein: "Schlampig formuliert" ist für meinen Geschmack ein bisschen zu viel der Nachsicht für einen Mann, der weiß, dass jeder öffentliche Satz von ihm seinen Schäfchen als eine Art Gesetz, zumindest aber als Richtschnur gilt. Und: Jesus war immer auf der Seite der Schwachen. Warum ist Papst Franziskus da gerade so wenig zu finden? Warum ruft er Putin nicht auf, das sinnlose Morden zu beenden? Warum reist er nicht nach Kiew?

Peters: Erstens war und ist der Papst immer auch diplomatisch tätig: Franziskus hat Selenskij im Vatikan empfangen. Er hatte auch angeboten, sich mit Putins Patriarchen Kyril auf dem Moskauer Flughafen zu treffen. Vergebens. 
Und mal ganz grundsätzlich: Franziskus ist in diesem Falle vorbildlich auf der Seite der Schwachen, nämlich bei den vielen verstümmelten oder toten Kindern und Erwachsenen auf beiden Seiten. Und bei denen, die als nächstes dran sind, ohne den Krieg zu wollen. Auch darum hat sich der Papst übrigens schon im Oktober 2022 beim öffentlichen Gebet auf dem Petersplatz direkt an Putin gewandt und von ihm gefordert "diese Spirale von Gewalt und Tod zu stoppen, auch zum Wohle seines Volkes." Damals sagte er auch schon: "Andererseits appelliere ich, in großer Betroffenheit über das unermessliche Leid des ukrainischen Volkes infolge der Aggression, die es erlitten hat, ebenso zuversichtlich an den Präsidenten der Ukraine, für ernsthafte Friedensvorschläge offen zu sein."

Hollstein: Okay. Aber "offen sein" ist doch etwas anderes, als pro-aktiv "die weiße Fahne" zu hissen. Ich reagiere da auch so empfindlich, weil die Katholische Kirche ja eine Vorgeschichte hat: Papst Pius XII., der Hitler per Telegramm zum Frieden mahnte, aber zu den monströsen Verbrechen schwieg. Übrigens bin ich nicht allein mit meinem Unverständnis für die aktuellen Äußerungen des Papstes. Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat sie "unglücklich" genannt. Mal ketzerisch gefragt: Vielleicht ist er nicht mehr fit genug für das Amt?

Peters: Ach ja, die Bischofskonferenz, immer schnell dabei, sich an die herrschende Meinung dranzuhängen. Das ist ein Problem der niedergehenden katholischen Kirche in Deutschland. Sie verliert so immer mehr an Profil, anstatt eine klare Position zu formulieren. Und: Na ja, die Nazikeule! Klar, das war ein dunkler Punkt in der Geschichte der Kirche. Ich denke viel lieber an die mutige Enzyklika von Papst Pius XI 1937, die er "Mit brennender Sorge" auf deutsch schrieb. Darin verurteilt er ganz klar Politik und Ideologie des Nationalsozialismus. Das Papier wurde heimlich und unter Lebensgefahr in allen Diözesen verteilt und am Palmsonntag in allen katholischen Gemeinden vorgelesen.

Autor Rolf-Herbert Peters, Katholik
Autor Rolf-Herbert Peters, Katholik

Hollstein: Ja, es gab (und gibt) viele mutige Katholiken. Und auch in meiner Kirche gab es Mutige und Mitläufer. Aber Papst Pius XII. gehörte nicht zu den Mutigen, er hat ja nichts riskiert. Die "Endlösung" wurde 1942 beschlossen, ab Bekanntwerden der ersten Deportationen hätte Pius Sturm predigen müssen gegen Hitler. So wie ich jetzt von Franziskus erwarten würde, Putin immer wieder öffentlich zum Frieden aufzurufen. Aber er ist ja dein kirchliches Oberhaupt. Was erwartest du denn?

Peters: Da bin ich bei Dir. Ich erwarte nichts vom Papst, als dass er seinen Job macht. Seine Aufgabe lautet nicht, mehr Waffen zu fordern, denn diese töten Ebenbilder Gottes (dazu zählt übrigens auch der böse Putin, so das christliche Selbstverständnis), auch wenn viele das für "gerecht" halten. Franziskus muss das Dilemma auflösen, in dem jeder Christ und jede Christin steckt: Einerseits verbietet das fünfte Gebot, menschliches Leben willentlich zu zerstören. Anderseits, so hat es Franziskus schon 2014 im Zusammenhang mit dem Irak formuliert, ist es "legitim, einen ungerechten Aggressor zu stoppen". Die Welt hat es schon öfters in aussichtslosen Lagen geschafft, massiven Verhandlungsdruck aufzubauen und Lösungen erzwungen. Keine Ahnung, ob das mit Putin gelänge. Ich denke, noch ist nicht jeder Versuch ausgereizt.

Hollstein: Da muss ich jetzt mal gegenzitieren und zwar Friedrich Schiller: "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt", heißt es im "Wilhelm Tell". Ich halte es für naiv zu glauben, dass es Frieden geben würde, wenn sich die Ukraine ergäbe. Dann würde sich Putin an das nächste Land auf seiner imperialistischen Speisekarte machen.

Peters: "Glauben heißt nicht wissen", so der deutsche Frühsozialist Wilhelm Weitling Und wie gesagt: Es geht nicht um Kapitulation, sondern um Verhandlungen. Und "naiv" lasse ich als Argument nicht gelten. Außerdem, wer will denn wirklich wissen, ob nicht Putin bei einer Niederlage noch viel aggressiver würde, als er es jemals war? Da kenne ich als Historiker aus der Geschichte jede Menge abschreckende Beispiele... 

Hollstein: Dass sowohl Kanzler Olaf Scholz als auch Oppositionschef Friedrich Merz den Papst kritisieren, zeugt doch zumindest von einer Art überparteilichen Kritik. 

Peters: Ein konfessionsloser Zweifler und ein Mitglied einer nicht-schlagenden katholischen Studentenverbindung beißen zu. Das wird die heilige Mutter Kirche in den Grundfesten erschüttern. 

Hollstein: We agree to disagree, lieber Rolf. Aber als gute Christen bleiben wir uns im Geist der Ökumene wohlgesonnen. Und das nächste Mal können wir bestimmt wieder über die Pleiten, Pech und Pannen meiner Kirche streiten.

Peters: ❤️

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