Die Frage hat Boris Pistorius offenbar erwartet, sie drängt sich in diesen Tagen auf, wieder einmal. Es ist eine Frage, die den Riss zwischen ihm und seiner SPD streift, eine Folge der hitzigen Wehrdienst-Debatte.
Ob er nicht Gefangener der eigenen Partei sei?
Pistorius schaut genervt, reagiert gereizt. Er verstehe ja, setzt der Verteidigungsminister an, dass man "immer wieder" versuche zwischen ihn und die SPD "einen Keil zu treiben". Und schiebt demonstrativ hinterher: "Das wird Ihnen nicht gelingen."
Also alles wieder gut?
Donnerstagmorgen im Bundestag. Pistorius hat kleine Augen, aber ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Am Vorabend wurde es spät. Aber er kann sich einen Moment lang als Sieger fühlen, als er gemeinsam mit den Fraktionsspitzen von CDU, CSU und SPD verkündet, dass im Streit um den neuen Wehrdienst ein Kompromiss gefunden wurde.
Das Ergebnis sieht so aus: Ab 2027 sollen alle Männer im Alter von 18 Jahren verpflichtend gemustert werden. Sollten sich aus der so erfassten Gruppe der Wehrtauglichen nicht genügend freiwillig für den Wehrdienst melden, wird per Losverfahren eingezogen. Eine Verweigerung ist wie früher möglich.
Bis zu dieser Einigung war es ein weiter Weg, inklusive Wutanfall des zuständigen Ministers vor knapp einem Monat. Pistorius versucht, den vorausgegangenen Konflikt an diesem Tag kleinzureden.
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Mit einem Wutanfall räumte Pistorius den Wehrdienst-Kompromiss ab
Tatsächlich hat sich der Verteidigungsminister weitgehend durchgesetzt. Die vollständige Wehrerfassung, wie es im Fachjargon heißt, hatte Pistorius von Anfang an angestrebt. Das vorgelagerte Losverfahren ist jetzt komplett vom Tisch. In einem anderen Punkt konnte sich die Union durchsetzen: Im Gesetz wird – anders als Pistorius es wollte – nun ein Ziel für den Personalaufwuchs bei der aktiven Truppe festgeschrieben, ein "Aufwuchskorridor".
Dieser Korridor solle bis 2035 formuliert werden, erklärt der Minister, vorerst ohne konkrete Zahlen zu nennen. Zunächst werde dieser "schmaler und niedriger" sein, sagt Pistorius, in den nächsten Jahren wachsen und höher werden. Hintergrund: die Kapazitäten der Bundeswehr, die nach Aussetzung der Wehrpflicht und Musterung 2011 erst wieder aufgebaut werden müssen. Beim freiwilligen Wehrdienst habe man "relativ feste Zahlen". Im ersten Jahr, also ab 2026, sollen um die 20.000 Freiwillige aus einem Jahrgang gewonnen werden, im Folgejahr rund 23.000.
Laut Pistorius wird die Entwicklung streng überwacht. Halbjährliche Berichte an den Bundestag sollen ein vollständiges Lagebild darüber geben, wie der Personalaufbau der Bundeswehr voranschreitet und ob die Rekrutierung auf freiwilliger Basis ausreicht.
Die Zurückhaltung des Verteidigungsministers zu den festgeschriebenen Korridoren war ohnehin vor allem ein Zugeständnis an die eigene Partei. Diese hatte auf ihrem Parteitag im Sommer darauf gepocht, es dürfe keinen Automatismus im Gesetz geben, ab dem Menschen zum Wehrdienst verpflichtet werden.
Tatsächlich scheinen aber auch Pistorius' Genossen mit dem nun gefundenen Kompromiss vorerst milde gestimmt. "Völlige Zustimmung", die der Verteidigungsminister am Morgen in der SPD-Fraktionssitzung gespürt haben will, ist es sicher nicht – manche Sozialdemokraten würden lieber auf jegliche Pflichtelemente beim Wehrdienst verzichten.
Doch Kritik sei in der Sitzung am Morgen tatsächlich nicht laut geworden, heißt es, auch die Skeptiker könnten den Kompromiss mittragen.
Alle Augen auf Boris Pistorius
Ein weiterer Wunsch von Pistorius wurde ebenfalls berücksichtigt: Auch für Freiwillige gibt es künftig, ähnlich wie für "Soldaten auf Zeit", mehr Geld – rund 2600 Euro brutto monatlich sollen sie erhalten. Verpflichtet man sich länger, gibt's auch noch einen Zuschuss zum Erwerb des Führerscheins. So will der Minister möglichst viele Freiwillige anlocken.
Die Union war gegen eine komplette Gleichstellung von Freiwilligen und Zeitsoldaten gewesen: Es gäbe sonst keinen Anreiz mehr, Berufssoldat zu werden, so die Befürchtung.
Boris Pistorius kann also mit dem Ergebnis für sein größtes politisches Projekt in dieser Legislatur sehr zufrieden sein. Umgekehrt heißt das aber: Alle Augen richten sich nun auf ihn. Das fängt schon mit dem schnellen Aufbau einer Infrastruktur für Musterungen an. Es wird ein Kraftakt, eine echte Bewährungsprobe.
Seit er das Amt im Bendlerblock im Januar 2023 von der überaus glücklos agierenden Christine Lambrecht übernommen hat, hat er zwar immer wieder die Probleme bei der Bundeswehr, bei Personal, Material und den Strukturen klar benannt. Nun muss Pistorius aber endlich zeigen, dass ihm die Kriegstüchtigkeit auch praktisch gelingt.
Schon in der vergangenen Legislatur war er teils als "Ankündigungsminister" verspottet worden, einer, der viel spricht, aber wenig umsetzt. Damals konnte der SPD-Politiker noch finanzielle Probleme geltend machen. Das Argument greift inzwischen nicht mehr. Die jetzige Regierung hat mit ihrer Einigung auf höhere Verteidigungsausgaben Pistorius den notwendigen Spielraum verschafft.
Auch beim Abbau der überbordenden Bürokratie in der Bundeswehr muss Pistorius liefern. Seit drei Jahren ist wenig passiert. Als der Minister vergangenen Freitag bei der Bundeswehrtagung in Berlin davon sprach, die "Verantwortungsdiffusion" in der Bundeswehr beenden zu wollen, warf mancher spöttisch die Frage auf, wer denn das Amt bislang geführt habe. Fordert der Minister sich selbst zum Arbeiten auf?
Knackpunkt wird für Pistorius aber die Personalstärke der Bundeswehr sein. Er hat selbst das ehrgeizige Ziel vorgegeben, die aktive Truppe von derzeit rund 183.000 Soldatinnen und Soldaten bis 2035 auf 260.000 anwachsen zu lassen. Hinzu sollen rund 200.000 Reservisten kommen, vor allem aus dem Freiwilligendienst; derzeit sind es rund 50.000 Reservisten. Die meisten Verteidigungsexperten sind überzeugt, dass diese Zahlen nicht ohne Wehrpflicht erreichbar sind.
Nicht alle in der SPD haben Pistorius sein Verhalten verziehen
Pistorius verkörpert wie kaum ein anderer den Politikertypus, auf dessen Wort man vertrauen kann. Der ehemalige Oberbürgermeister von Osnabrück bleibt der beliebteste Minister, und das, obwohl er gefordert hat, Deutschland müsse "kriegstüchtig" werden. Nun hat Pistorius bis Ostern noch eine Art Gnadenfrist. Denn bis dahin will er Pläne für eine radikale Reform der Bundeswehr vorgelegt haben. So hatte er es vor wenigen Tagen angekündigt. Aber zieht seine Partei da wirklich mit? Sein Reden von der Kriegstüchtigkeit ertragen viele in der SPD nur unter Schmerzen.
Viele Genossen haben Pistorius noch nicht verziehen, wie rabiat er bei der Fraktionssitzung zum ursprünglichen Wehrdienstkompromiss vorging, wie er seine Parteifreundin Siemtje Möller abkanzelte. Mancher spricht von einer "One-Man-Show" und betont, dass die genaue Ausgestaltung des neuen Wehrdienstgesetzes Sache des Parlaments sei. Wie auch die Entscheidung, ob und ab wann die Wehrpflicht aktiviert werden soll.
Es klingt wie eine Drohung.
Dass es noch viel Erklärungsbedarf gibt, ist dem Verteidigungsminister offenbar bewusst. Nachdem die Journalisten Pistorius am Donnerstagmorgen mit etlichen Detailfragen gelöchert haben, will er selbst noch eine Frage loswerden:
"Was wollen Sie tun, damit der freiwillige Wehrdienst ein Erfolg wird?", fragt er in die zahlreichen Kameras und Mikrofone. "Wollen Sie nur über Losverfahren sprechen oder auch über die Attraktivität bei der Bundeswehr?" Kurze Kunstpause. "Nehmen Sie die Frage gerne mit", sagt Pistorius. Dann dreht er ab.