Es ist der Jahreswechsel, 2022 wird zu 2023. Man erinnert sich für einen kurzen Moment an dieses Euphorie-Gefühl, das viele gespürt haben, als es am 31. Dezember zwölf geschlagen hat. Als sich das Kalenderblatt umgedreht hat. Manche haben mit ihren Liebsten angestoßen, eine Wunderkerze in der Hand gehalten – oder sich einfach darüber gefreut, dass 2022 endlich vorbei ist. Dann gibt es noch das andere Bild dieser Silvesternacht. Zum Teil vermummte Gestalten, die Raketen und Böller auf andere Menschen werfen. Sich einen Spaß daraus machen, Andere in Gefahr zu bringen. Beistehende Passanten, Unschuldige – aber auch ganz gezielt Rettungskräfte, die auf dem Weg in den Einsatz sind.
Der Feuerwehrmann Manuel Barth war in der Silvesternacht nicht im Dienst. Aber er war 20 Jahre auf der Feuerwache in Berlin-Kreuzberg, ist selbst in Kreuzberg und Neukölln aufgewachsen. "Neukölln ist ein Brennpunkt", sagt er in der 437. Folge des Podcasts "heute wichtig". Was seine Kolleg:innen aus dieser Nacht berichtet haben, sei "dramatisch, erschreckend und neu". Aber: Die im Anschluss folgende Debatte über ein vermeintliches "Zuwanderungsproblem" hält der Feuerwehrmann für absurd: "Das ist eher ein Sozialisierungsproblem." Diese Form der Desintegration gebe es überall dort, wo man patriarchale, archaische Strukturen findet – im Islamismus genauso wie im Rechtsradikalismus.
Silvester-Krawalle: "Es ist eine Frage der Sozialstruktur, keine Frage der Herkunft"
Das bestätigt auch der Kriminologe und Soziologe Dr. Nils Zurawski: "Es ist eine Frage der Sozialstruktur, keine Frage der Herkunft. Geschweige denn irgendeiner Kultur, die Menschen angeblich ‘fernsteuert’." Dr. Zurawski leitet die Forschungsstelle für strategische Polizeiforschung an der Akademie der Polizei in Hamburg und macht für die Eskalation an Silvester mehrere Faktoren verantwortlich: "Ich könnte mir vorstellen, dass dieser Thrill in der Nacht und eine Gruppendynamik diese Situation haben entstehen lassen." Ein ganz wesentlicher Grund seien die Lebensumstände der mutmaßlichen Täter. Der Großteil ist männlich, viele scheinen aus prekären Verhältnissen zu kommen. Das hat den größeren Einfluss als ein möglicher Migrationshintergrund. Denn in Deutschland hängt der Lebensweg nach wie vor maßgeblich von der Herkunft der Eltern ab, so der studierte Kriminologe: "Meine Eltern waren arm – ich bleibe in dieser Schicht. Und diese Schicht wird zum großen Teil auch von Menschen mit migrantischer Herkunft gestellt. Das hat aber mit ihrer Herkunft nur das zu tun, dass sie nicht die Art von Chancen haben wie Andere."
Bei einem Brand, zu dem die Feuerwehr eigentlich alarmiert wurde, hätten einige Bewohner:innen nur überlebt, weil Nachbar:innen geholfen hätten – viele von ihnen mit Migrationshintergrund, wie der Feuerwehrmann Manuel Barth betont. Auch er kann sich nicht erklären, warum Menschen Einsatzkräfte angreifen. "Ein Stück Blödheit gehört dazu", sagt er, aber das alleine verharmlose die Sache. Besonders erschreckend war für Barth, dass selbst zwei Tage später noch Handyvideos der Taten mit ganzem Stolz präsentiert wurden: "Das ist Trophäensammlerei. Mir fehlte da die Reue."
Dass es ausgerechnet an Silvester eskaliert, kann laut Dr. Zurawski auch am passenden Moment liegen. Viele Menschen sind draußen, haben Alkohol konsumiert, Böller und Raketen knallen. Dazu kommen jedoch die sozialen Umstände, sagt der Kriminologe: "An Silvester bricht sich etwas Bahn, was sich schon lange abzeichnet: [...] Entzivilisierung, eine Art von Bindungslosigkeit. Denn Armut und prekäre Verhältnisse machen etwas mit Menschen und ihren sozialen Bindungen. Und damit auch mit ihrem Normverständnis und der Akzeptanz von allgemeingültigen Normen." Im Gespräch mit Michel Abdollahi stellt er die Frage in den Raum: "Wenn man meint: ‘Ich gehöre sowieso nicht dazu, wieso soll ich mich dann noch an diese Normen halten?’ Das ist für viele Menschen nachweisbar."
"Das Ego ist häufig vorne"
Was also hilft? Die Zahl der Übergriffe wächst, sagt der Feuerwehrmann Manuel Barth im Podcast. Bodycams, Präventionsmaßnahmen alleine reichten da nicht mehr: "Es braucht jetzt auch Sanktion. Da müssen härtere Strafen her, als nur mit Delfinen zu schwimmen."
Auch der Soziologe Nils Zurawski erkennt eine Enthemmung, befeuert durch soziale Medien: "Das Ich, das Ego ist häufig vorne. Das sieht man auch beim Ärger auf die Klimakleber. Wie manche Autofahrer sich aufregen! Wobei ich denke: Den Stau bilden eure Autos. Ja, die verbauen euch was, aber generell steht ihr auch sonst im Stau." Deshalb appelliert Zurawski im Podcast "heute wichtig" insbesondere an die Zivilgesellschaft, die in unangenehmen Situationen lauter werden müsste. Ob gegen Hetzer, oder schlicht Menschen mit schlechtem Benehmen: "Die Mehrheit muss auch mal sagen: ‘Halt doch einfach mal das Maul, du störst. Wir wollen das nicht.’ Die Moderaten sind aber oft sehr leise, die gehen weg, haben keine Lust auf Ärger. Die müssten sich aber umdrehen und laut sein."
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