Stern-Chefredakteur Abnehmspritze, Wirtschaftsfrust, Erdoğan-Visite – Gregor Peter Schmitz über den neuen stern

Ein Bild des aktuellen stern-Covers mit einem Donut, der eine Spritze bekommt
Im aktuellen stern geht es unter anderem um eine Begegnung zwischen Kanzler Scholz und dem türkischen Regierungschef Recep Tayyip Erdogan
© stern
Chefredakteur Gregor Peter Schmitz wirft einen Blick in den neuen stern und macht sich Gedanken über das aus den Fugen geratene Verhältnis von Politik und Wirtschaft in Deutschland.

Vor Kurzem durfte ich einen ganzen Abend mit erfolgreichen deutschen Unternehmerinnen und Unternehmern verbringen. Solche Abende machen Hoffnung, weil sie zeigen, wie viel Mutiges in Deutschland passiert, allem Untergangsgerede zum Trotz. Die Klage ist des Kaufmanns Gruß, natürlich gilt der Satz immer noch. Aber fast jede Klage war gefolgt von einer cleveren Idee, wieso auch diese Krise eine Chance ist.

Ging es in den Gesprächen aber um Politik, verschwand dieser Optimismus, speziell zur Frage, ob noch etwas vorangehe in Deutschland. Dann wurden jene, die sonst so genau differenzieren, ganz allgemein, fast populistisch. Nichts klappe mehr in unserem Land, bekam ich zu hören, alle Politiker seien unfähig, vor allem die Vertreter der Ampelregierung. Deutschland werde weltweit abgehängt, eigentlich müsse man auswandern.

„Wirtschaft und Politik sollten zusammen- statt gegeneinander arbeiten – früher eine deutsche Tradition“

Mich hat das nachdenklich zurückgelassen, eben weil es sich um so kluge wie zupackende Menschen handelte. Klagen über die unfähige Politik waren in der Wirtschaft schon immer weitverbreitet (umgekehrt übrigens auch). Aber mittlerweile scheint dort das Grundverständnis abhandengekommen zu sein, dass ein Land sich nicht ganz so einfach wie ein Unternehmen umbauen lässt. Ich will die Kritik gar nicht abtun, es gibt jede Menge Anlass dafür, gerade mit Blick auf die Ampelkoalition. Aber es ist nicht gut für ein Land, wenn seine Wirtschaftselite so über seine politischen Vertreterinnen und Vertreter denkt.

Scholz' Regierung scheint dem kritischen Diskurs zu auszuweichen

Woran dies auch liegen könnte, konnte ich ein paar Tage später bei einem privaten Abendessen verfolgen. Diesmal saßen um den Tisch Menschen, die ganz nah an der politischen Macht waren und sind. Und weil sie die Macht so gut verstehen, staunten sie offen darüber, wie abgeschottet die aktuelle wirkt. Kanzler Olaf Scholz, so hieß es am Tisch, halte sich stets für den schlauesten Mann im Raum, was sogar stimmen könne. Aber manchmal helfe es doch selbst dem Schlauesten, wenn er etwas Widerspruch höre. Doch wer gebe Olaf Scholz kritisches Feedback? Und dann sei da Oppositionsführer Friedrich Merz, der zwar noch keinen einzigen Tag in seinem Leben regiert habe, aber rhetorisch durchregiere wie kaum ein Zweiter. Ist die Arroganz der Politik also ein Grund für den Frust der Wirtschaft? Auch weil zu viel Selbstgewissheit seltsam wirkt in einer Zeit, in der Gewissheiten doch laufend erschüttert werden? Robert Habeck, Bundeswirtschaftsminister, wirkte lange wie jemand, der Differenzen zwischen Politik und Wirtschaft auflösen kann. Dann verlor er sich im Heizungsgesetz. Nun hat Habeck in einer Rede zu Israel seine Stimme wiedergefunden. Wie wäre es mit einer ähnlichen Rede darüber, was sich in Deutschland Wirtschaft und Politik zu sagen haben – und wie sie zusammen- statt gegeneinander wirken könnten, früher eine deutsche Tradition?

Am Freitag empfängt Olaf Scholz im Kanzleramt einen ganz besonderen Dinner-Gast: Recep Tayyip Erdoğan. Der türkische Regierungschef hat gerade die Hamas eine "Befreiungsbewegung" genannt, er schürt in der arabischen Welt den Hass auf Israel. Mit ihm feierlich dinieren? Fast unerträglich. Und doch richtig, schreibt Veit Medick, unser Ressortleiter Politik, auf stern.de. Die globalen Beziehungen seien unübersichtlicher geworden, die westlichen Demokratien stünden unter Druck, auch mit schwierigen Herrschern zusammenzuarbeiten – gerade mit Erdoğan müsse man in die moralische Grauzone, schon wegen seines Einflusses in der Flüchtlingspolitik. Der Kanzler kümmere sich daher zu Recht nicht um die Kritik an der Dinner-Einladung. Und doch: Heißt das, dass die Erdoğan-Visite ein Besuch wie jeder andere ist? Natürlich nicht, sagt Medick: "Auch Scholz muss jetzt liefern. Mit einer Einladung an schwierige Herrscher ist immer auch die Pflicht verbunden, dem Gast offen (und öffentlich) ins Gesicht zu sagen, was nicht geht, wo die Grenzen sind." Hoffen wir darauf.

Erschienen in stern 47/23