Ukrainische Offensive Militärexperte Gustav Gressel: "Auf der russischen Seite sieht man schon deutliche Verschleißerscheinungen"

Schlachtfeld bei Bachmut
Ein mit Bombenkratern übersätes Feld zwischen den ukrainischen und russischen Stellungen in der Nähe von Bachmut
© Libkos/AP / DPA
In den vergangenen Tagen vermeldeten die Ukraine Fortschritte an der Front im Süden – wie nachhaltig sind diese? Kommt nun die Gegenoffensive in Schwung? Der Militärexperte Gustav Gressel ordnet ein.

Nach langen Wochen des Stillstands gab es in den vergangenen Tagen Erfolgsmeldungen von der ukrainischen Front im Süden. Das strategisch wichtige Dorf Robotyne wurde etwa erobert. Wie sehen Sie die Lage an der Front?
Es gibt zwei große Unbekannte: die ukrainischen und die russischen Reserven. Wir sehen, dass die russische Verteidigung schwächer wird, dass auch die Intensität der russischen Gegenangriffe nachlässt. In den nächsten Tagen werden wir sehen, wie sehr sich Luftlandetruppen bewähren werden, die der Kreml als Reserve an die Front schickt. Die Ukraine macht schnellere Fortschritte als in den Wochen zuvor, auch wenn diese noch kleinräumig sind. Es besteht die Möglichkeit, dass sich die ukrainischen Fortschritte beschleunigen. Die Frage ist nur: Wie viele Kräfte haben die Ukrainer dann noch? Mein Eindruck ist, dass die Ukrainer schon viele Reserven aufgebraucht haben.

Das ursprüngliche Ziel war ja, bis zum Asowschen Meer durchzustoßen…
Ja, aber viele Beobachter ziehen inzwischen in Zweifel, dass das noch möglich ist. Ich bin da aber nicht so apodiktisch. Die Frage ist, wie schnell sich die ukrainische Offensive beschleunigen wird. Ich habe allerdings etwas Sorge, weil der Schutz der Flanken bei einem tieferen Einbruch der Ukrainer schwierig sein wird. Wenn es Richtung Melitopol geht, braucht man einen langen Atem. Wahrscheinlich wird Melitopol erst im Spätherbst oder Winter erreicht werden.

Davon gehen Sie wirklich noch aus?
Das kann noch werden.

Aber schauen wir uns die Lage nüchtern an: In drei Monaten hat die Ukraine weniger als 500 Quadratkilometer befreit. Ist es da nicht unrealistisch, in den kommenden beiden Monaten bedeutende Fortschritte zu erwarten, zumal jetzt die Tage kürzer werden und das Wetter sich verschlechtert?
Das Terrain ist jetzt ein anderes. Die Ukrainer sind ja jetzt sechs, sieben Kilometer in den ehemals von den Russen gehaltenen Gebieten drin. Je tiefer man kommt, desto weniger ist das Gelände vermint, weil die Russen ihre eigenen Zufahrtswege nicht verminen. Zum Zweiten: Diese erste Phase war ein Abnutzungskampf. Wer nutzt seine Kräfte schneller ab? Auf der russischen Seite sieht man schon deutliche Verschleißerscheinungen. Wenn die Russen jetzt keine ordentliche Rotation organisieren, dann kann es eng werden.

Haben die Ukrainer denn die sogenannte "Surowikin-Linie", also die russische Hauptverteidigungslinie, schon erreicht?
An einer Stelle haben sie die Linie durchbrochen, und zwar unweit des Dorfes Werbowe, südöstlich von Robotyne. Aber bei diesen Linien kommt es vor allem darauf an, welche Kräfte diese verteidigen, weniger darauf, wie gut sie ausgebaut sind. In diesem Fall waren das auf russischer Seite Reservisten, deshalb ist der Einbruch geglückt.

Politikwissenschaftler Gustav Gressel schaut ernst in die Kamera
Politikwissenschaftler Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations ist spezialisiert auf sicherheitspolitische und militärstrategische Fragen mit Fokus auf Osteuropa
© privat

Neben diesem einen Frontabschnitt, von dem es positive Nachrichten gibt, kommen von anderen eher schlechte Nachrichten. Zum Beispiel aus der Region Bachmut, wo die Ukrainer angreifen, aber kaum vorankommen. Oder aus Kupjansk, wo die Russen derzeit langsam auf dem Vormarsch sind. Droht zum Winter hin nicht eine neue russische Offensive?
Die Russen starten diese schon. Von Kupjansk aus wollen sie wieder an den Fluss Oskil kommen. Die zweite Angriffsrichtung liegt bei der Stadt Kreminna. Ich nehme an, dass Putin das befohlen hat, weil er das Gebiet Donezk komplett erobern will. Das hat letztes Jahr über Bachmut nicht geklappt, nun versucht er es aus nördlicher Richtung. Diese Offensiven brauchen starke Reserven auf, die die Russen eigentlich im Süden benötigen würden. In der jetzigen politischen Situation wird aber wohl niemand Putin widersprechen. Unterm Strich könnte es sein, dass diese russische Offensive genug Kräfte bindet, um den Ukrainern im Süden Erfolge zu ermöglichen.

Aber gleichzeitig binden russische Angriffe bei Kupjansk doch auch ukrainische Kräfte?
Ja. Aber für die Verteidigung benötigt man weniger Kräfte als für eine Offensive.

"Die Ukraine wird weiterhin verwundbar bleiben"

Unabhängig vom Geschehen an der Front sehen wir in fast jeder Nacht russische Luftangriffe, zuletzt traf es auch Städte ganz im Westen wie Lwiw. Ist es überhaupt realistisch, ein Land wie die Ukraine, das doppelt so groß ist wie Deutschland, effektiv zu schützen?
Von den Getreidehäfen im Süden über die Waffenschmieden bis zu den Verkehrsknotenpunkten im Westen oder Ballungszentren wie Kiew – das alles abzudecken, ist im Grunde nicht möglich. Die Russen werden weiterhin Treffer erzielen. Außerdem sind zu wenige Fliegerabwehrsysteme verfügbar. Die meisten Systeme östlicher Bauart haben kaum noch Munition. Und die westlichen Systeme sind begrenzt, die Munition für sie auch. Deshalb wird auch jetzt so intensiv darüber diskutiert, der Ukraine mehr Kampfflugzeuge zu liefern. Mit diesen könnte die Ukraine diese Lücken schließen. Unterm Strich muss man aber sagen, dass die Ukraine weiterhin verwundbar sein wird.

In die Zukunft gedacht: Selbst wenn die Ukrainer die Russen aus dem Land vertreiben würden, würde das ja nicht heißen, dass die russischen Raketenangriffe enden würden…
Das ist richtig. Ich hoffe allerdings, dass für den Fall, dass die Ukrainer die Russen vollständig von ihrem Territorium vertreiben, der Krieg ohnehin beendet wird.

In der vergangenen Woche hat die Ukraine einen sehr erfolgreichen Drohnen-Angriff geflogen: In Pskow wurden vier Transportflugzeuge der russischen Luftlandetruppen getroffen. Dabei kamen erstmals "Pappdrohnen" aus australischer Produktion zum Einsatz. Verstößt das nicht gegen den bisher gültigen Grundsatz, dass die Ukraine keine westlichen Waffen gegen russisches Staatsterritorium einsetzen darf?
Es kommt darauf an, was die Ukrainer mit den Australiern vereinbart haben. Es gibt einige Staaten, die ihre Lieferungen nicht an diese Bedingung knüpfen. Allerdings habe ich da eher osteuropäische Staaten im Verdacht gehabt. Zum anderen: Diese Bedingungen gelten für offiziell als Unterstützung gelieferte Waffen. Möglicherweise hat die Ukraine diese Drohnen einfach kommerziell gekauft.

Werden wir noch mehr solcher ukrainischer Drohnenangriffe auf russisches Gebiet sehen?
Ich denke schon. Ein Großteil der Drohnen sind Aufklärungsdrohnen, die eigentlich für den Krieg im Donbass entwickelt wurden. Aber weil die russische Luftabwehr dort so dicht ist, sucht die Ukraine für sie eine andere Verwendung. Darüber hinaus entwickelt die Ukraine selbst Drohnen mit noch höherer Reichweite. Putins Ratio ist ja: Einen langen Krieg gewinnt Russland. Aber diese Rechnung geht nicht auf, wenn die Ukraine beginnt, die russische Rüstungsindustrie anzugreifen. Die "ukrainische" Rüstungsindustrie liegt ja gewissermaßen im Ausland, deshalb kann Russland diese nicht angreifen.

Der Militäranalyst Mick Ryan hat in der vergangenen Woche darüber geschrieben, dass der Westen die militärische Versorgung verstetigen muss, damit die Ukraine einen "langen Krieg" gewinnen kann. Aber vernachlässigen solche militärischen Planspiele nicht die Tatsache, dass die Ukraine am Ende dieses langjährigen Kriegs vielleicht kein lebenswertes Land mehr sein wird?
Der lange Krieg ist ja in erster Linie Russlands Kalkül. Aus westlicher Sicht wäre das eine schlechte Variante. Man könnte den Krieg verkürzen, indem man mehr Waffensysteme liefern und das Training ukrainischer Soldaten hochfahren würde. Aber da müsste die westliche Unterstützung ganz anders aussehen. Die Gefahr, dass die Ukraine ausblutet, ist da. Aber sie ist auch für den Fall da, dass es zu "Minsk-3" kommt, also einem Waffenstillstandsabkommen, das den Russen große Gebietsgewinne zwar nicht zuspricht, aber toleriert. Dieses Szenario eines "Unentschiedens" fürchten die Ukrainer, weil dann die Erwartung besteht, dass der Krieg in fünf Jahren wieder losgehen könnte. Im Westen ist man momentan etwas blauäugig, wie hoch die Kosten eines sogenannten schlechten Friedens wären.

Erdogan ist gerade nach Russland gefahren, um sich mit Putin zu treffen. Gibt es Anzeichen, dass der Kreml-Chef sich auf Friedensverhandlungen einlassen könnte?
Ich glaube nicht. Zurzeit läuft die Gegenoffensive zu langsam, um die Russen aus der Ruhe zu bringen. Für Putin gibt es momentan keine Motivation, zu Verhandlungen. Er will die Ukraine erschöpfen, bis sie nicht mehr da ist.

Was könnte Putin an den Verhandlungstisch bringen?
Eine schnelle, demütigende Niederlage in der Ukraine.

Gerade hat Präsident Selenskyj den Verteidigungsminister Resnikow ausgewechselt. Warum tut man so etwas mitten im Krieg?
Resnikows Ablösung war schon länger geplant. Eigentlich war er nicht gerne Verteidigungsminister. Er hat das seit 2021 gemacht, weil Not am Mann war. Und nach den Korruptionsskandalen um Unterkunfts- und Nahrungsbeschaffung in der Armee war Resnikow angezählt.

Könnte es für Selenskyj eigentlich innenpolitisch eng werden, wenn die Gegenoffensive hinter den Erwartungen zurückbleibt?
Gemessen an den Erwartungen in der Ukraine ist die Gegenoffensive schon jetzt eine Pleite. Mal sehen, wie Selenskyj das verkaufen wird. Aber es bleibt der Ukraine wenig übrig: Sie wird im Süden auch im Winter weiter angreifen, um es den Russen zu verwehren, sich noch einmal so tief einzugraben wie im vergangenen Winter.