Kaum noch Wohnraum, hohe Kosten Warum die Flüchtlingssituation angespannter als 2015 ist

Die Messehalle in Hamburg wurde bereits als Lage für Flüchtlinge hergerichtet
Städte wie Hamburg haben bereits begonnen, etwa Messehallen als Unterkunft für Flüchtlinge herzurichten
© Axel Heimken / DPA
Seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs sind bereits mehr als eine Million Flüchtlinge nach Deutschland gekommen. Städte und Kommunen haben schon jetzt Probleme, die Schutzsuchenden unterzubringen. Und die Lage könnte sich noch verschärfen.

In der vergangenen Woche trafen sich Vertreter von Länder und Kommunen mit Bundesinnenministerin Nancy Faeser, um die aktuelle Migrationssituation in Deutschland zu diskutieren. Schon vor diesem Flüchtlingsgipfel schlugen viele Kommunen Alarm: In einigen Städten sei bereits kein Wohnraum mehr vorhanden, die Unterbringung von weiteren Geflüchteten könne kaum oder gar nicht geleistet werden. Städte wie Hamburg, Leipzig und Dresden stellen sich bereits darauf ein, Messehallen oder Zeltstädte als Flüchtlingsunterkünfte nutzen zu müssen. Unweigerlich werden Erinnerungen an die Jahre 2015 und 2016 wach, als knapp 1,1 Millionen Menschen vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak nach Deutschland kamen. Auch heute liegt wieder ein Hauch von "Wir schaffen das" in der Luft. Aber müssen wir uns wirklich auf eine neue Migrationskrise einstellen?

Mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine: "Die Lage ist angespannter als 2015"

Uwe Zimmermann ist stellvertretender Hauptgeschäftsführer des Deutschen Städte- und Gemeindebunds. Er schlägt im Gespräch mit dem stern Alarm: "Was die Unterbringungsmöglichkeiten in vielen Städten angeht, ist die Lage angespannter als in den Jahren 2015 und 2016. Wir bekommen zunehmend die Rückmeldung von unseren Mitgliedern, dass vor Ort kein Wohnungsmarkt mehr vorhanden sei." Viele Städte müssten sich bereits mit der Frage beschäftigen, ob sie Geflüchtete in Turnhallen, Bürgerhäusern oder Messen unterbringen, so Zimmermann weiter. 

Ein Blick auf die Statistik lässt durchaus Vergleiche zu der Situation vor sieben Jahren zu. Laut Bundesinnenministerium sind seit dem russischen Überfall bereits etwa 1,1 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Deutschland gekommen. Aber es gibt fundamentale Unterschiede erklärt Migrationsforscher Gerald Knaus im Gespräch mit dem stern

"Wir haben in diesem Jahr tatsächlich jetzt schon mehr Menschen, denen in Deutschland Schutz geboten wurde als 2015. So gesehen scheint das oberflächlich ähnlich, aber die Dynamik dieser Flucht ist vollkommen anders. In diesem Jahr ist der überwiegende Teil der Menschen in Deutschland legal eingereist – aus der Ukraine." 

"Wenn man keine Wohnungen frei hat, kann man auch keine Menschen unterbringen"

Das sieht Zimmermann ähnlich. Im Gegensatz zu dem Prozedere von 2015, als Menschen aus Syrien, Afghanistan oder dem Irak nach Deutschland kamen und die Regierung die Verteilung "von oben nach unten" anordnen konnte, genießen Ukrainerinnen und Ukrainer EU-rechtliche Privilegien, so Zimmermann: "Sie haben die Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Sie haben nach den europarechtlichen Regelungen Rechte und Freiheiten, die auch sinnvoll und richtig sind." Eine Verteilung der Geflüchteten erleichtert dies allerdings nicht. Auch wenn Zimmermann betont: "Die Verteilung der Flüchtlinge und die Unterbringung der Menschen, die aus der Ukraine gekommen sind, hat bisher relativ gut funktioniert." 

Dennoch mangele es an Wohnraum für die Schutzbedürftigen. "Ein erheblicher Teil der Flüchtlinge, die 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen sind, sind immer noch da. Das heißt, der Wohnraum, der damals für Flüchtlinge zugeteilt wurde, ist in weiten Teilen immer noch bewohnt." 

Man habe aus diesen Jahren gelernt und die Organisation für den Umgang mit Fluchtsituationen verbessert. Er gibt allerdings zu bedenken: "Wenn man keine Wohnungen mehr frei hat, kann man auch keine Menschen unterbringen". Das würde zwangsläufig bedeuten, dass Geflüchtete wieder in zentralen und teilweise behelfsmäßigen Flüchtlingsunterkünften untergebracht werden müssten. 

"Vier Millionen Ukrainer, die zurückgegangen sind, könnten binnen Wochen wiederkommen"

Stehen wir also wieder am Beginn einer Migrationskrise? Gebannt sei die Gefahr vor einer neuen Fluchtbewegung nicht, meint Knaus. Bis Mitte September seien etwa 6,4 Millionen Ukrainer über die polnische Grenze in die EU eingereist. 4,6 Millionen seien wieder zurück in ihre Heimat gekehrt – insbesondere in den Sommermonaten, als sich die Sicherheitslage in vielen ukrainischen Städten entspannt hatte. Doch das bedeute nicht, dass dies auch so bleibt, so Knaus: "Diese vier Millionen, die zurückgegangen sind, könnten in kürzester Zeit, binnen Wochen, wiederkommen. Das Einzige, wovon das abhängt, ist, wie der Krieg in der Ukraine verläuft."

Insbesondere durch die neuerlichen Angriffe auf Kiew und die Teilmobilmachung der russischen Streitkräfte wächst die Sorge vor einer erneuten Fluchtbewegung. Genau deshalb mahnt Knaus zur Weitsicht: "Die Frage ist: Ist Deutschland bei derzeit einer Million Ukrainern im Land vorbereitet, sollten in den nächsten zwei bis drei Monaten noch eine halbe Million kommen? Hat Berlin dann einen Plan?"

Für Knaus ist die Verteilung der Geflüchteten aber ohnehin keine allein deutsche Herausforderung, sondern eine der EU. Die Frage sei: "Warum sind in Baden-Württemberg mehr Ukrainer als in ganz Frankreich? Wie kann man auf europäischer Ebene verhindern, dass in Baden-Württemberg Zelte aufgebaut werden müssen und in Frankreich oder Italien Unterkünfte Platz haben?" Es sei nun nötig, intelligente Lösungen auf europäischer Ebene zu finden, denn so betont Knaus, "durch Zwang und Quoten, das haben wir gelernt, klappt es nicht".

"Ziel der russischen Führung ist es, 20 Millionen Menschen nach Europa zu vertreiben"

Knaus befürchtet, dass sich die Situation in Europa und insbesondere in Deutschland noch weiter verschärfen könnte. "Das ist eine politisch erzeugte Vertreibung. Ohne den Angriff aus Russland gäbe es keine ukrainischen Flüchtlinge." Mit dem Angriff auf die ukrainische Infrastruktur verfolge der Kreml das politische Ziel, eine Fluchtbewegung zu erzeugen, die Europa überfordere. Und das verbreite Russland auch völlig offen, so Knaus: "Seit Wochen hören wir aus dem Kreml und den russischen staatlichen Medien, dass das Ziel der russischen Führung es ist, 20 Millionen Menschen nach Europa zu vertreiben." 

Die vergangenen Monate der Entspannung seien diesbezüglich nur eine Verschnaufpause gewesen. "Es entstand in den letzten Monaten der Eindruck, die Krise liegt bereits hinter uns. Dass wir eine Ausnahmesituation haben, ist bis vor zwei Wochen eher ein Nebenthema gewesen", so Knaus. 

Der Migrationsforscher warnt deshalb davor, sich bei diesem Thema in Sicherheit zu wiegen: "Wir müssen zurückkehren zu dem Denken vom März kurz nach Beginn des Krieges, als eine sehr große Fluchtbewegung erwartet wurde, und uns darauf einstellen, dass es dazu jetzt kommen kann." Denn ein Szenario, dass innerhalb kurzer Zeit große Zahlen kommen, sei vollkommen realistisch, meint Knaus. "Dann ist es eine Krise, wie sie Deutschland und Europa seit den 1940er Jahren nicht mehr erlebt hat – eine historische Krise in einem historischen Fluchtwinter." 

"Wir stehen vor größeren Problemen als 2015 und 2016"

Sollte es zu einer solchen historischen Krise kommen, seien insbesondere die Kommunen auf flächendeckende Unterstützung des Bundes angewiesen, betont Zimmermann: "Nach meiner Einschätzung stehen wir vor größeren Problemen als 2015 und 2016. Wir haben eine ganz schwierige finanzielle Situation, noch ganz anders als vor sechs bis sieben Jahren: Hohe Rezession, hohe Inflation, hohe Energiepreise." Alleine sei das von Städten und Gemeinden nicht zu stemmen. Bis zum Angriff auf die Ukraine hätte die Kommunen in Deutschland jährlich Energierechnungen von etwa fünf Milliarden Euro gehabt, erklärt Zimmermann. Durch die Inflation und die extrem gestiegenen Energiepreise könnten diese Ausgaben auf 15 bis 20 Milliarden Euro steigen. Zum Vergleich: Die jährlichen Investitionsausgaben der Kommunen liegen bei etwa 30 Milliarden Euro. 

Deshalb sei es wichtig und richtig, dass Faeser beim Flüchtlingsgipfel in der vergangenen Woche erste positive Signale gesendet habe. Es sei ein guter Gipfel gewesen, so Zimmermann. Er gibt aber zu bedenken: "Es wurde noch nichts beschlossen." 

Genau deshalb sei es entscheidend, nun schnell Lösungen zu finden, meint auch Knaus. Man dürfe sich nicht darauf verlassen, dass es von selbst gut geht. "Für das, was wir erleben, gibt es keinen Präzedenzfall. Schon jetzt sind es mehr Geflüchtete als 2015, wenn jetzt nochmal 500.000 und eine Million dazukämen; das wäre kein Weltuntergang, aber es wäre eine historische Herausforderung." 

Mit Material von DPA

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