Anzeige
Anzeige

Mali Der Klang der Farbe

Tourag in Timbuktu, der legendären Wüstendstadt im Norden von Mali
Tourag in Timbuktu, der legendären Wüstendstadt im Norden von Mali
© Horst Friedrichs
Das Land liefert kaum Rohstoffe und keine Nachrichten, und doch birgt Mali große Schätze. Landschaften aus Licht gemalt und die prächtigste Kultur südlich der Sahara. Seine Vergangenheit weist einen neuen Weg in die Zukunft Afrikas.
Von Marc Goergen

Die Zukunft Afrikas ist ziemlich alt und brüchig und lagert in einem staubigen Zimmer am Ende der Welt. Muhammed Touré breitet das Erbe seiner Familie vor sich aus. Draußen treibt der Wind den Sand der Sahara durch die Straßen, scheppert der Ruf des Muezzins aus Lautsprechern; hier drinnen, im Manuskriptraum der Mamma-Haidara-Bibliothek, herrscht Stille. Nur der Deckenventilator rotiert leise. Vorsichtig öffnet Touré eine Kiste, nimmt den Koran aus dem 13. Jahrhundert heraus und legt ihn langsam auf den Tisch. Dann, aus einer anderen Schatulle, den Scharia-Kommentar von 1149. Immer wieder greift Touré in Regale, immer weitere theologische, medizinische, astronomische Schriften kommen zum Vorschein. Nach wenigen Minuten stapeln sich Seiten über Seiten jahrhundertealten Papiers auf dem Tisch, voll arabischer Schriften und Kalligrafien, umhüllt von Umschlägen aus altem Leder. Manuskripte für vielleicht 100.000 Euro. Mitten in Afrika, mitten in Mali, mitten in Timbuktu.

Mali belegt auf dem Entwicklungsindex der Vereinten Nationen den fünftletzten Platz, nur Staaten wie etwa Niger und Sierra Leone sind noch ärmer. Mali liefert weder Rohstoffe noch Nachrichten, und wer auf einer Karte beim Umriss Malis hängen bleibt, diesem Schmetterling mit den ungleichen Flügeln, sieht da viel Wüste im Norden, einen grünen Streifen im Süden und mittendrin den blauen Bogen des mächtigen Niger. Doch er ahnt nicht: Mali ist die Vergangenheit Afrikas, kaum eine Kultur ist älter, prächtiger. Und Mali ist vielleicht auch seine Zukunft. "Viele denken, dass wir weder lesen noch schreiben konnten, bis die Europäer kamen", sagt Touré, "aber ist das hier etwa nichts?" Gut 9000 Manuskripte umfasst die Familienbibliothek, 100.000 Bücher sind in Timbuktus Sammlungen insgesamt katalogisiert. Und vielleicht noch einmal 200.000 lagern in verschlossenen Kisten oder schlummern vergraben tief in der Erde - Erbe der glorreichen Vergangenheit der Wüstenstadt.

Ruhmreiche Geschichte

Zu seiner Blütezeit, im 16. Jahrhundert, war Timbuktu nicht nur Knotenpunkt für die Transsahara-Karawanen, sondern geistiges Zentrum eines mächtigen Reiches. 100.000 Einwohner bevölkerten die Stadt, darunter mehr als 20.000 Studenten und Gelehrte. Sie kommentierten islamische Texte, eine Universität vergab Diplome, Ärzte operierten sogar den grauen Star; ja, "der Glanz und die Wunder Timbuktus waren so groß" - so berichtet eine Chronik -, "dass man sie mit dem zuverlässigsten Erinnerungsvermögen nicht im Gedächtnis behalten konnte".

Dann aber überrollten die Marokkaner die Stadt, und als Ende des 19. Jahrhunderts die französische Kolonialarmee einrückte, war der Glanz der Wüstenperle schon verblasst. Doch die Manuskripte überlebten - versteckt von den mächtigen Familien der Stadt. Vor einigen Jahren nun begann man die Schriften wieder ans Licht zu holen.

21 Bibliotheken gibt es in Timbuktu, die größte private ist jene der Familie von Muhammed Touré. Seit dem Jahr 2000 sind die Schriften ausgestellt und werden systematisch restauriert: Mit Pinzette und Kleber arbeiten Frauen daran, Termitenlöcher zu stopfen. Muhammed Touré hat Maschinen zur Herstellung von Ersatzpapier in die Wüste schaffen lassen, und sogar der Farbton der alten Seiten wird exakt nachgemischt. Darauf werden die brüchigen Manuskripte vorsichtig geklebt.

"Keine gesichtslose Masse"

Der 21-jährige Touré leitet gemeinsam mit seinem Onkel die Bibliothek. Er redet schnell, geht schnell, als ob keine Zeit zu verlieren sei beim Retten des Erbes. Touré hat Informatik studiert und kümmert sich vor allem um die Digitalisierung der Bücher. Übers Internet ergründen so auch Historiker in Europa den rätselhaften Alltag der Karawanen oder auch - das Manuskript trägt die unscheinbare Nummer 5292 - die Sexualtricks der Wüste: "Das Blut eines geschlachteten schwarzen Huhns gemischt mit Honig aufgetragen auf die Penisspitze lässt Frauen beim anschließenden Geschlechtsverkehr einen Orgasmus erleben, der so intensiv ist, dass sie fast verrückt werden."

Mehrere Tausend Touristen bestaunen schon jährlich Timbuktus Manuskripte, vor allem im Winter, wenn die Temperaturen auf erträgliche 30 Grad sinken. 2009 soll die Stadt - "inschallah", sagt Touré, wenn Allah es will - eine neue Zentralbibliothek erhalten. "Hoffentlich werden die Menschen dann verstehen, dass unser Kontinent keine geschichtslose Masse ist."

Für kein Land Schwarzafrikas gilt das mehr als für Mali. Schon um das Jahr 1000 regierten Könige hier ein Großreich. Dank ertragreicher Goldminen leisteten sich die Herrscher Heere von 200.000 Kriegern, ließen allabendlich in der von Fackeln erleuchteten Hauptstadt 10.000 Speisen verteilen. Als der König Kankan Mussa 1324 mit 60.000 Mann Gefolge gen Mekka pilgerte, warf er so freimütig mit Gold um sich (er hatte zwei Tonnen dabei), dass in Kairo der Goldpreis einbrach und sich erst nach Jahren wieder erholte. Selbst zeitgenössische europäische Karten zeigen die schwarzen Herrscher in stolzer Pose mit einem Goldklumpen in der Rechten.

Die alles einnehmende Wüste

Erst die Ankunft der Portugiesen an der Küste Westafrikas ab dem 15. Jahrhundert ließ die Reiche zerbröckeln. Als der deutsche Afrikaforscher Heinrich Barth Mitte des 19. Jahrhunderts die Region erkundete, konnte er nach 15.000 Kilometern Marsch zwar von ungeheuren Strapazen, allerhand Krankheiten, Todesfällen, Gefangennahmen, Intrigen und Mordanschlägen berichten - das sagenhafte Timbuktu schien ihm aber schon reichlich vom Wüstenwind verweht: "Ihre dunklen, schmutzigen Tonmassen waren kaum von dem Sand und dem rund umher aufgehäuften Schutte zu unterscheiden."

Heute, in Zeiten wachsender Wüsten, frisst die Sahara mehr denn je an den gesichtslosen Rändern von Timbuktu. Jahr für Jahr schieben sich die Dünen ein paar Meter mehr in die Stadt hinein, bedecken halb vertrocknete Gärten, Bolzplätze, Häuser. Der Wind trägt den feinen Sand in die Zimmer, in Autos, Töpfe, Taschen und auch in die kleinen Gläser voll süßem Tee, den die Tuareg sich draußen in der Wüste kredenzen. Die meisten der Nomaden leben noch immer wie ihre Vorfahren in Zelten vor der Stadt. Und noch immer brechen von dort Karawanen auf zu den Salzminen von Taoudenni, 700 endlose Kilometer durch die Sahara, zur Orientierung nichts als die Sterne der Nacht. Sind sie dann nach drei, vier Wochen zurück in Timbuktu, werden die grauen Salzplatten auf Kähne geladen, die sie nochmals 350 Kilometer flussaufwärts bringen, nach Djenné.

Das Salz machte die Stadt reich, davon zeugen die Häuser noch heute. Es gibt ein solches Sammelsurium an Lehmbauten, dass heute nicht nur Architekten aus Europa anreisen, um die alten Häuser zu inspizieren - die Baumeister aus Djenné werden sogar eingeladen, ihr Können in der Ferne selbst zu demonstrieren.

So ist der Terminkalender von Boubacar Kouroumansé ziemlich voll. Der 47-Jährige ist Vorsteher der 300 Maurer von Djenné, Erbe einer jahrhundertealten Baumeisterdynastie, aber vor allem: ein gefragter Mann. Erst vergangenes Jahr hat er mehrere Wochen lang in der koreanischen Stadt Jinhae eine Lehm-Moschee errichtet, davor war er in Frankreich, jetzt liegt schon wieder eine Anfrage aus Korea vor, dieses Mal aus Seoul, dabei wollte er eigentlich in die Niederlande. Und auch Amerika, wo er schon 2003 ein Stadttor mitten auf der Mall in Washington nachgebaut hat, steht bald wieder an. "Der Westen begreift langsam, dass man aus unserer Bauweise ökologisch und ökonomisch einiges lernen kann", sagt Kouroumansé.

Der Baumeister scheint die Verkörperung jener zwei Welten, der afrikanischen und der westlichen. Er trägt das auch in Mali übliche weite islamische Gewand, die Dschalabija, dazu aber eine randlose Designerbrille. Und natürlich hat er auch sein eigenes Haus aus Lehmziegeln gebaut, zwei Etagen, ein kleiner Innenhof, kaum Fenster - doch auf dem Dach thront eine große Satellitenschüssel. "Was soll ich machen?", sagt Kouroumansé, "die Kinder lieben nun mal die Cartoons im Fernsehen."

Wenn nicht auf Reisen, kümmert sich Kouroumansé mit seiner Firma um die Restaurierung der Häuser. Djenné hat wohl die ursprünglichste Altstadt Westafrikas. Ein Labyrinth verwinkelter Gassen, mit verborgenen Innenhöfen und einer mächtigen Moschee im Zentrum, einem der größten Lehmbauten der Welt überhaupt. Ein 50 mal 30 Meter mächtiges Gebetshaus mit weichen Formen, wie geschmolzenes und wieder erhärtetes Wachs. Der heutige Bau basiert auf einem Vorgänger aus dem 13. Jahrhundert und wurde 1907 errichtet. So ganz aber hören die Arbeiten nie auf, denn jedes Frühjahr bekommt die Moschee eine neue Haut übergestreift. Die Aktion hat den Charakter einer gigantischen Schlammschlacht, bei der eine Hälfte der Stadt gegen die andere antritt, dient aber ganz praktisch dazu, die nicht ganz wasserfeste Konstruktion rechtzeitig vor den Sturzgüssen der Regenzeit zu stärken.

Djenné ist kein perfektes Kleinod. Offene Abwassergräben stinken vor sich hin. Viele Häuser wurden in der Dürre von 1984/85 verlassen. Doch seit die Moschee 1988 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, hört man wieder auf Traditionalisten wie Boubacar Kouroumansé und entsinnt sich der langen Bautradition Westafrikas.

Europa als Vorbild

Auch abseits von Djenné und Timbuktu haben die Völker Malis wie kaum andere ihre Häuser der Landschaft angepasst. Siedelten sie an einer steilen Felswand, wie die Dogon, ein paar Stunden nordöstlich von Djenné, klebten sie ihre Dörfer wie Schwalbennester an den Abbruch. Noch immer harren dort oben einige Alte einsam aus, rauchen wilden Tabak und bewachen die Seelen der Ahnen, derweil ihre Kinder ins bequemere Flachland gezogen sind.

Seit Mali 1959 von Frankreich unabhängig wurde, ist Europa sein Vorbild gewesen. Die Elite kleidete sich in Anzüge, schickte die Kinder auf französische Schulen. Das alles ist nicht vorbei, aber Politiker und vor allem Künstler scheinen sich immer mehr auf die afrikanische Identität zu besinnen. Und haben damit Erfolg.

Toumani Diabeté etwa, Virtuose auf der Kora, dem traditionellen harfenähnlichen Instrument Westafrikas, wurde für sein Duettalbum mit Ali Farka Touré, dem verstorbenen Meister des malischen Gitarrenblues, vor wenigen Jahren mit einem Grammy ausgezeichnet. Diabaté tourt regelmäßig durch Amerika und Europa, er hat einen schicken Chrysler, zwei Frauen, drei Häuser, er spielt vor Präsidenten, mit den Einnahmen finanziert er Nachwuchstalente, und gerade eben hat er begonnen, auf dem Dach eines seiner Häuser sein eigenes Plattenstudio zu bauen, kurzum: Diabaté ist ein gemachter Mann - dank Familientradition. Der 43-Jährige ist ein Griot, ein Mitglied der altehrwürdigen Musikerkaste Malis.

Musik ist die Seele

Deren Geschichte beginnt im 13. Jahrhundert. Damals begannen Herrscher Musiker als Hofpoeten zu finanzieren. Sie gaben das Know-how an ihre Kinder weiter, und so blicken manche Griot- Familien heute auf Dutzende Musikergenerationen zurück. Bei Toumani Diabaté sind es nach eigener Zählung 53.

Wie die meisten hat er das Spielen der 21-saitigen Kora von seinem Vater abgeschaut. "Bei uns zu Hause wurde immer Musik gemacht. Es war gar keine richtige Ausbildung. Ich hab einfach zugehört und versucht nachzuspielen", sagt Diabaté. Kaum anders macht es nun Diabatés Ältester, Sidiké, nur, dass der schon mal sein Kora-Spiel am Mischpult im Wohnzimmer mit elektronischen Beats unterlegt.

Aber der Grammy, die Plattenaufnahmen mit Buena-Vista-Entdecker Ry Cooder, sein teures Auto - ist das kein Verrat an afrikanischen Werten? "Ich sehe meine Musik als Brücke zwischen Afrika und Europa", sagt Diabaté, "und wenn die Menschen in Europa sich für unsere Tradition begeistern, heißt das ja nicht, dass sie zur Folklore verkommt. Musik ist nun einmal die Seele Malis."

Wer die Märkte der Hauptstadt Bamako durchstreift, jene vollgepackten Gänge und Tunnel, versteht schnell, was Diabaté meint. Überall schallt Musik aus Radios, und tief in diesen Innereien der Stadt haben Kassettenhändler ganze Gassen belegt. Zu Hunderten türmen sich die Bänder in den Buden. Umgerechnet ein Euro für die Schwarzkopie, eins fünfzig fürs Original. Dazu senden im Land über 150 Radiostationen; Moderatoren sind bekannter als Minister und machen sogar Werbung für Hautcremes oder für Veranstalter von Mekkareisen.

Reges Nachtleben

Spätabends dann, wenn die Hitze nachlässt, wenn manchmal ein frischer Wind vom Niger den Staub, die Abgase und den Gestank der Kohlekochöfen aus der Stadt getrieben hat, öffnen die Clubs ihre Türen. Diabaté selbst spielt nur noch einmal pro Woche, aber die Szene blüht jede Nacht in Dutzenden Kneipen neu auf.

So ein Club ist manchmal nur ein Raum mit abgewetzten Sofas und Stühlen. Der Sound verzerrt, das Licht funzelig, doch die Bierflaschen sind groß und kalt, und die Musik macht Gänsehaut. Schnelle Basslinien, Fingerwirbel auf Trommeln; manche heisere Stimme klingt eher nach Andalusien, nach Flamenco, denn nach Schwarzafrika. Irgendwann beginnen Paare zu tanzen, und das schummrige Licht brennt immer neue Schwarz-Weiß-Bilder in die Seele.

Ist Mali also der hippe Hüftschwung Afrikas? Eine Art Ideal für die vom ehemaligen südafrikanischen Präsidenten Thabo Mbeki prophezeite "afrikanische Renaissance"? Ist das nicht absurd angesichts all der Probleme? Mehr als die Hälfte der Malier kann weder lesen noch schreiben, das Bruttoinlandsprodukt liegt bei gerade mal 800 Euro pro Kopf, die Korruption blüht, die US-Subventionen für die eigene Baumwollproduktion treiben die malische Baumwollindustrie in den Ruin, und immer mehr Männer suchen ihr Heil in der illegalen Immigration nach Europa. Sollen vergammelnde Papiere aus der Wüste all die Familien ernähren?

Den eigenen Weg gehen

Sie werden es nie können. Vielleicht aber muss sich ein Land, ja ein ganzer Kontinent, ebenso auf die eigenen Wurzeln besinnen, um seine Wiedergeburt zu erleben. "Wir haben viel zu lange versucht, nur den entwickelten Ländern nachzueifern, anstatt eigene Ideen auszuprobieren," sagt auch die Designerin Awa Meité.

Die 37-Jährige studierte mehrere Jahre in der Nähe von New York, doch Monat für Monat wurde Amerika ihr fremder. "Am Ende hab ich fast nur noch vor dem Fernseher gelegen", sagt sie. Meité beschloss, nach Mali zurückzukehren und ihre Heimat neu zu entdecken. Ein halbes Jahr lang tourte sie mit dem Bus durchs Land, lernte die Indigofärberei der Dogon, das Lederhandwerk der Tuareg, die Webtechnik des Volkes der Bwa. Und ließ all dieses uralte Wissen in ihre Entwürfe für Möbel und Kleider einfließen. Heute schneidern, hämmern und färben 20 Frauen für sie. Ihr Laden in Bamako brummt, und bald wird sie die erste Filiale in Mailand eröffnen.

Sicher, Meités Familie gehört zur Elite. Ihre Mutter war sogar mal Kulturministerin. Meités Englisch ist so akzentfrei wie ihr Französisch, die Hände sind gepflegt, ihre Haut wirkt so jung wie glatt, keine Spur sonnengegerbt. Sie kennt die Restaurants von Paris und London besser als die Elendsquartiere Bamakos. Doch ähnlich wie Toumani Diabaté verkörpert sie eine neue Generation Afrikaner, die allein mit den Heilsversprechungen des Nordens nichts mehr anfangen können. "Mali ist dabei, seine Zukunft auf der afrikanischen Identität aufzubauen", sagt Meité. "Andere Länder hier machen dasselbe. Das ist nicht immer einfach, aber es ist unser Weg in eine bessere Zukunft."

print

Mehr zum Thema

Newsticker

VG-Wort Pixel