Was ist das für ein Geräusch? Schon aus der Ferne ist es zu hören. Ein Donnern wie bei einem Unwetter. Ein schallender Schlag wie bei einer Explosion. Dann ein Knallen, als hallten Schüsse eines Maschinengewehrs wider über den türkisblauen Lago Argentino.
Und plötzlich, hinter einer Biegung, erscheint er, der Perito Moreno, ein gigantisches strahlend bläulich-weißes Eisfeld, das sich aus den Anden über 30 Kilometer zwischen den Bergen ins Tal ergießt. Größer als die Stadtfläche von Buenos Aires, bis zu 170 Meter dick, nicht so schmutzig wie andere Gletscher. Vor allem: begehbar für Besucher.
"Bereit?", ruft der Bergführer Walter Lucas, als wir den Fuß des Gletschers erreichen. Er ruft auf Deutsch. Walter Lucas hat in der Schweiz gelebt. Die Steigeisen werden unter die Schuhe geschnallt, Gletscherbrillen aufgesetzt, Handschuhe übergestreift, sogar im Sommer. Nun geht es auf den spektakulärsten Gletscher im Hielo Continental, dem drittgrößten Eisfeld der Welt nach der Antarktis und Grönland.
Die Expedition über den Perito Moreno führt in Höhlen, in denen der Gletscher im Eiltempo schmilzt und der Klang Tausender Tropfen widerhallt. An Spalten vorbei, die 15 Meter in magisch blaue Hohlräume reichen. Durch eine zerklüftete, blendend helle Landschaft, die sonst in der Welt selten Besuchern zugänglich gemacht wird. Von oben brennt die Sonne, von unten kühlt das Eis, und von der Seite weht der hier im Süden Patagoniens berüchtigt starke Wind. Er stürmt meist von West heran und türmt die Wellen im Beagle- Kanal auf.
Ruhe und Weite
Walter Lucas ist vor neun Jahren aus Buenos Aires geflohen, der 15-Millionen-Stadt. "Ich lebe auf dem Gletscher", sagt er. "Ich bin 16 Stunden auf ihm." Hier, weit weg von der Hauptstadt, fand er Ruhe, Sicherheit und Weite, all das, was die Hauptstadt Argentiniens ihm in keiner Sekunde vergönnte. Es gibt keinen größeren Kontrast in Argentinien. Und für Reisende: keine bessere Kombination. Die kosmopolitische Metropole am Río de la Plata – und die wilde Natur, rund 3000 Kilometer entfernt.
Es sind besondere Tage im tiefen Süden Argentiniens. Der Anblick eines kalbenden Gletschers berührt etwas im Betrachter, ähnlich wie fließende Lava. Man wird ganz still, man horcht. Auf das nächste Grollen. In sich hinein. An allen Ecken bewegt sich der Perito Moreno, reibt sich, reißt auf, Eistürme fallen in den See und treiben als Schollen stromabwärts. Der Gletscher bewegt sich etwa zwei Meter pro Tag. Ein 70 Meter hoher Riesenbogen wird in Kürze in sich zusammenbrechen, ein Naturschauspiel, das sich alle zwei bis vier Jahre hier im Nationalpark wiederholt.
30 Meter Schneefall pro Jahr
Ein Trauerspiel für die Welt, könnte man meinen – in Zeiten der Klimaveränderung. Doch der Perito Moreno gehört zu den wenigen Gletschern, die nicht an Masse verlieren; seit 400 Jahren ist er stabil, erklärt Walter Lucas. "Die Schneeansammlung oben in den Anden ist so stark, 30 Meter Schneefall pro Jahr, dass sie die Verluste hier unten ausgleicht." Gibt das Hoffnung für die Welt? Nicht alle Gletscher schmelzen? "Nein, der Perito Moreno ist eine Ausnahme", sagt er. "Die anderen 300 Gletscher in der Gegend, davon 48 große, verlieren im Sommer so viel Eis, dass sie das im Winter nicht aufholen können. Wir haben 1000 Quadratkilometer in den vergangenen 50 Jahren verloren." Eine Fläche größer als Berlin.
Heimat von Pumas und Kondoren
Die Wanderung auf dem Perito Moreno ist Höhepunkt einer Reise durch Patagonien, diese so dünn besiedelte Steppe, die Charles Darwin einst steril und wüstenartig nannte und die in ihrer Weite doch etwas Grandioses, Ursprüngliches hat. Es ist die Heimat von Pumas und Kondoren, Schafherden und wilden Rindern, von scharfen Winden und einer Landschaft, die die Leute hier selbst als wild bezeichnen, als unberührt, auch anfällig. Auf chilenischer Seite haben sie jetzt eine Route geschaffen, die 17 Nationalparks verbindet.
"Hier in der Begegnung mit den fallenden Riesen kommen die Touristen ins Grübeln", sagt Lucas. "Sie denken: Wenn der Gletscher geht, geht die Welt. Was wir in Europa oder Amerika machen, bleibt hier am Ende der Welt nicht ohne Auswirkung. Wir gehören alle zusammen. Das ist das, was wir wollen mit dem Tourismus."
In der rund 80 Kilometer östlich gelegenen Stadt El Calafate studieren Besucher den Klimawandel aus der Nähe. Im dortigen Gletscherzentrum können sie Temperaturunterschiede verfolgen und fünfstündige Expeditionen über den Perito Moreno starten, zu den neuralgischen Punkten des Klimawandels. Kein Gletscher der Welt bietet einen solchen Zugang.
El Calafate, 25.000 Einwohner, die am stärksten wachsende Stadt Argentiniens, ist der beste Ausgangspunkt für Expeditionen in Patagonien. Von hier führen Abstecher zum Bergsteigerdorf El Chaltén im Nationalpark Los Glacieres, 200 Kilometer entfernt, wo man sich den gewaltigen Gipfeln Cerro Torre und Fitz Roy nähern kann. Und zu den Haciendas im Westen, im Grenzgebiet zu Chile, wo man am Rand der Anden das ursprüngliche Leben der südlichen Gauchos erleben kann. Oder bis hinunter nach Feuerland, Ausgangspunkt für die Expeditionen in die Antarktis.
Wichtiger Wasserspeicher
Längst hat der Run auf Patagonien und sein Eisfeld eingesetzt, einen der größten Wasserspeicher der Welt. Milliardäre aus den USA und Großbritannien haben sich Land gesichert: Medienmogul Ted Turner in der Nähe von Seen und Flüssen, Unternehmer Joseph Lewis eine Fläche von 120 Quadratkilometern am Lake Escondido und Douglas Tompkins, der 2015 verstorbene Gründer von Esprit und North Face, genannt "der Besitzer des Wassers", auf der chilenischen Seite der Kordilleren.
Sie alle, Umweltschützer und Landkäufer, wissen: In Zeiten der Überbevölkerung, Wasserarmut und Ressourcenknappheit wird dieser Teil der Welt große strategische Bedeutung haben. Die Menschen hier sagen: Es ist das beste Wasser der Welt. Sie sagen auch: Wenn Leute sich vor dem Weltuntergang retten wollen, dann hierher. Walter Lucas sagt: "Besser nicht verraten, welche Schätze hier stecken, Öl, Gold, Wasser." Und der größte Schatz von allen, findet er, ist die Abgeschiedenheit: Hunderte Kilometer und keine Menschenseele.
