Jugendherbergen Zimmer mit Aussicht

Sammelduschen, kratzige Decken, knorrige Hausmeister - von wegen. Jugendherbergen sind heute moderne Häuser mit Programm für die ganze Familie. Nur eins ist geblieben: Sie liegen an den schönsten Plätzen Deutschlands.

Vom Bahnhof ins Mittelalter sind es zehn Minuten. Anfangs noch im Schritttempo, an schiefen Häusern und schiefernen Dächern vorbei, dann geht's mit dem Auto nicht mehr weiter. Nur noch zu Fuß. Sandige Wege, eng geschlungen. Über den Wassergraben führt eine Brücke, unter Schießscharten schlängelt sich ein Gang. Noch ein paar Meter, und man ist angekommen im fast 900 Jahre alten Burghof, dessen Platten die Wärme der Sonne speichern. Hier kann man barfuß laufen. Und kilometerweit schauen. Zu den Füßen liegt das Rheintal, Weltkulturerbe, mit seinen gescheitelten Rebhängen und dem Fluss, der das Licht der Häuserzeilen spiegelt. 22 Euro kostet dieses Panorama - pro Person und Nacht.

Lara und Mark aus Toronto können beides nicht fassen: weder Preis noch Ausblick. Die beiden 24-Jährigen sitzen beim Weizenbier auf Holzbänken im Innenhof von Burg Stahleck, der Jugendherberge in Bacharach. In London, Berlin und Paris sind sie gewesen auf ihrer Reise durch Europa, "aber das hier", sagt Lara und deutet in Richtung der Reben, "das hatten wir nirgendwo". "A real castle!"

Überall, wo Deutschland schön ist, stehen auch Jugendherbergen. Ob als Schiff im Rostocker Hafen, in den Wäldern von Sachsen, am Nordseestrand oder auf tausend Meter Berghöhe. Herrische Herbergsväter, abgestandener Hagebuttentee, kratzige Decken und Sammelduschen am Ende des Flurs? Findet man immer seltener. Häuser von heute bieten Kabelfernsehen und Internet, Seminarräume mit Tagungstechnik. Familien bekommen Kinderbetten, Babyfon und Windeleimer. Gäste buchen online. Fast überall kann man mit Kreditkarte zahlen. Ab 14 Euro gibt es Bett und Frühstück. Das funktioniert, weil 1,9 Millionen Mitglieder im Verband Deutsches Jugendherbergswerk (DJH) organisiert sind und mit ihren Mitgliedsbeiträgen, 15 Millionen Euro jährlich, den Betrieb subventionieren.

Mehr Gäste als als die Bettenburgen von Ibis und Etap

Die Burg in Bacharach war ein guter Tipp. Lara und Mark haben sie aus "Rick Steve's Best of Europe 2005", einem Reiseführer für junge Leute mit wenig Geld. In so einem Führer vermerkt zu sein wäre manch anderem Gast-Haus ein paar Tausender Werbebudget wert. Mit Hotelketten kann sich das DJH schon lange messen. Rund zehn Millionen Übernachtungen zählte es 2005, mehr als die Bettenburgen von Ibis und Etap zusammen. Im vergangenen Jahr machte das DJH 265 Millionen Euro Umsatz.

Um sein Netzwerk aus 542 Häusern über die Republik zu spannen, hatte der Verband knapp ein Jahrhundert Zeit: Vor 97 Jahren, im Sommer 1909, fing alles an. Es war die Zeit der Jugendbewegung und der Wandervögel, die Flucht vor Drill und Disziplin der Kaiserzeit in die Natur. Der erste Herbergsvater hieß Richard Schirrmann, ein Lehrer aus dem sauerländischen Altena. Auf Wandertour im Bröltal suchten er und seine Schüler vor einem Gewitter Schutz in einer Schule: "Zwei Klassenzimmer genügen, eins für Buben, eins für Mädel. Die Bänke werden übereinandergesetzt. Das gibt freien Raum für 15 Betten. Jede Lagerstatt besteht aus einem straff mit Stroh gestopften Sack, zwei Betttüchern und einer Wolldecke." Noch im selben Jahr gründete er die erste "Volksschülerherberge" - eine provisorische Unterkunft mit eisernen Bettgestellen. Noch heute gibt es sie, die älteste Jugendherberge der Welt.

Nur noch 40 Prozent sind Schüler

Auf der Burg Altena schlafen aber mittlerweile nicht nur Schüler, sondern Familien, Singles, Hochzeitspaare, selbst Hunde sind willkommen - das DJH will seine Häuser fit machen für die neue Zeit. Kinder gibt es weniger, Klassenfahrten werden kürzer, Schulen schließen, vor allem im Osten. Vor zehn Jahren machten Schüler noch die Hälfte der Übernachtungen aus, heute sind es nur noch 40 Prozent. Deshalb investiert das Werk.

Nicht alle Häuser hat das bisher erreicht. Noch gibt es Herbergen des alten Schlags. Mit Sechser-Stockbett-Zimmern, Sperrholzmöbeln und Linoleumböden. Die bestechen dann durch nostalgischen Old-School-Charme - und herzliche Herbergsväter. Karlheinz Nitzschke, 63, ist einer von ihnen. Vor seiner Rezeption in Falkenhain in Sachsen steht ein alter Wohnwagen, der Kiosk. Das Tagesangebot lockt: Pommes und Kaffee. Vom Dach des Wagens baumelt eine Girlande aus bunten Glühbirnen, darunter steht ein Flipper und "Rave Racer" - der Klassiker unter den Autorennsimulatoren. An einem Plastiktisch sitzt ein Mann und trinkt Bier aus der Flasche, sein Bauch drückt gegen den Tisch. "Held der Arbeit" steht auf seinem T-Shirt.

An vielen Orten fehlt das Geld

Die Herberge selbst ist dafür ein echter Geheimtipp: Kleine Bungalows verteilen sich am Ufer der Talsperre Kriebstein, es gibt Ruderboote, viel Wald und kaum Menschen. Einige der Hütten sind renoviert, mit Bad, Küche und zwei Schlafzimmern. Nitzschke würde gern mehr solcher Bungalows bauen. Aber ihm fehlen die Mittel. "Zu DDR-Zeiten hatten wir Geld, aber kein Material, heute haben wir Material, aber kein Geld."

Von jährlich rund 40 Millionen Euro, die die 14 Landesverbände des DJH in die Sanierung ihrer Häuser stecken, sieht Nitzschke wenig. Und hat noch Glück. Im Sommer läuft sein Haus gut, nur im Winter macht er dicht; die Mitarbeiter melden sich arbeitslos. Andere Herbergen schließt das DJH gleich ganz, zehn bis zwölf pro Jahr. Um an lukrativeren Orten neue zu bauen.

Auf Sylt steht eine davon, die Herberge "Dikjen Deel" in Westerland wurde im Sommer 2004 eröffnet. Ein Holzhaus in den Dünen, Brandungsrauschen, helle Farben, weite Fenster. Nebenan ein Zeltplatz nur für Jugendliche. Die Nordsee ist in diesem Sommer 23 Grad warm, und wer sich nachts in die Fluten traut, schwimmt mit etwas Glück im Meeresleuchten. "Die Schweinswale kommen ganz nah ran", schwärmt ein Mädchen.

Ein Holzsteg führt zum Badestrand. Die Luft riecht nach Sonnencreme und Sommer. Hier pubertiert die Herbergsjugend. Neckt sich, streckt sich. Erster Kuss, große Liebe. Kummer! Jugendherbergen bleiben Kontaktbörsen, und die Kinder spielen immer noch die Spiele der Eltern, "Tat oder Wahrheit", Flaschendrehen.

Und wenn die Sonne untergeht, werden die Gitarren rausgeholt. "Marmor Stein und Eisen bricht" und "We don't need no education" kommt noch immer gut. Ein Junge knutscht in den Dünen mit seiner ersten Inselliebe, ein anderer hängt mit seiner Playstation Portable im Strandkorb rum. Mundorgel und iPod, Laptop und Lagerfeuer - das geht alles. Und was sich sonst nur die Reichen und Schönen leisten können, gibt es fast für lau: 23,60 Euro Vollpension pro Nase. Dafür bekommt man in der Sansibar im nahen Rantum nicht mal eine Flasche Prosecco.

Kaum eine kinderfreundlichere Unterkunft

Spaß finden heute die meisten in einer Jugendherberge. Im Foyer der so genannten "Wellnessherberge" Finnentrop bei Dortmund sitzt Uwe Karmann, 48, bei einer Tasse Tee und sieht ziemlich entspannt aus. Urlaub in einer Herberge zu machen, das hätte sich der Netzwerkadministrator früher nicht denken können. Bis seine Frau das ehemalige Krankenhaus mit Sauna und Kneippbädern im Internet entdeckte. Eigentlich fliegen die Karmanns im Urlaub oft in die USA, mieten ein Wohnmobil und fahren von Nationalpark zu Nationalpark. In diesem Jahr ist es zum ersten Mal eine Herberge. "So zwanglos wie hier kann ich in Deutschland in keinem Hotel Urlaub machen", sagt Karmann. "Und kindgerechter geht's auch kaum." Mit Sohn Dennis, 9, taucht er in ein Bad aus bunten Plastikbällen oder liegt im "Snoezelraum", einem Zimmer mit sanfter Musik und buntem Licht. Lässt sich seine Frau eine halbe Stunde massieren, kostet das 18 Euro.

Für immer jung! Die neuen Häuser sind schick und trendy. Richtig stolz ist man auf die neue alte Herberge in Garmisch-Partenkirchen, für knapp sieben Millionen Euro renoviert: Aus dem Naturfreundehaus ist ein Designhotel mit Alpenpanorama und Kletterwand geworden. Von der Decke des Speisesaals hängen bauchige Lampen, jede groß wie eine Kirchturmglocke: Weniger geht nicht, denn sie müssen das ganze Frühstücksbüfett beleuchten. Auf vier Meter Tresen gibt's Bergkäse, Gouda und Salami. Dazu Müsli und Vollkornbrot, Quark, frisches Obst und Marmelade - nicht in Plastikportionspäckchen, sondern offen auf gebürstetem Stahl - 21 Euro kostet die Nacht.

Alte Angebote mit neue Namen

Und der stellvertretende Herbergsvater sieht eher aus wie ein jung-dynamischer Investmentbanker. Holger Strobel, 34, trägt ein hellblaues Hemd und sein Haar gegelt. Er steht für eine neue Generation von Herbergsleitern: Sie haben studiert, denken in Bilanzen und über den Pfefferminztee hinaus. Und so kriegen alte Angebote neue Namen. Hinter dem Programm "Alpiner Studienplatz" verstecken sich Raftingtouren auf der Loisach oder ein Outdoor-Küchenstudio in den Bergen. "Man muss den Leuten etwas bieten, Urlaub alleine bucht kaum noch jemand", sagt Strobel.

Das gilt auch für Schulklassen. Heute soll die 5. Klasse vom Gymnasium Berchtesgaden herausfinden, was in einem gesunden Fluss lebt. Bergführerin Karin steht an der Isar und teilt die Klasse in Gruppen ein. Das ist nicht weiter schwierig, der achtjährige Hannes übernimmt das Kommando. "Zu mir nur die Buam!", kräht er. In hochgekrempelten Hosen staksen die Kinder durch das Flusstal und drehen jeden Stein um: Mit einem Pinsel streichen sie Fliegenlarven ab und packen sie in Plastikbecher. Erst unter dem Mikroskop wird klar, was sie gefangen haben. "Ich hab einen Blutegel gefunden", schreit Hannes und hält ihn einer Mitschülerin unter die Nase. "Iiih!", quietscht die und dreht sich weg. Hannes feixt. Das ist Erlebnispädagogik.

Man kann sogar heiraten

Nicht nur Hannes kann auf seine Kosten kommen. Gleitschirmfliegen im Sauerland, Tauchkurs an der Ostsee, ein Flitterwochenende mit Sektempfang in Bielefeld? Gibt es. Oder doch lieber eine Woche Akrobatik? Die Herberge Nettetal-Hinsbeck bei Mönchengladbach hat ein eigenes Zirkuszelt mit Trainern. Wenn die Kinder nach fünf Tagen wieder zu Hause sind, können sie Feuer spucken, über Scherben laufen oder mit dem Einrad auf einem Schwebebalken fahren.

Das Herbergspublikum ist mittlerweile ein buntes Völkchen. Die allein reisende Heilpraktikerin, das Pärchen auf der Durchreise nach Italien, die Regisseurin mit Familie, zottelige Backpacker. Auch die jungen Alten sind längst da. Herbert Ladlef und Irmgard Kurzmann, beide 64 Jahre zum Beispiel, Rentner auf Radtour. Jetzt machen sie Zwischenstation in Lübben im Spreewald. 40 Jahre ist Ladlef nicht mehr in einer Jugendherberge gewesen. "Damals", erzählt er, "hat eine Übernachtung 50 Pfennig gekostet." In Zimmern mit Eisenbetten und mindestens zehn Leuten hat er geschlafen, und am nächsten Morgen musste die Wolldecke genau gefaltet sein. Heute darf er im Doppelzimmer ausschlafen, Frühstück gibt es bis halb zehn, und nach dem Late-Check-out werden die Betten gemacht. "27plus nennen die das, wenn wir Senioren hier übernachten, ich war angenehm überrascht", erzählt Irmgard Kurzmann. In den Herbergen endet die Jugend mit 27. Wer älter ankommt, zahlt drei Euro mehr fürs Schlafen. Und hilft so mit, den günstigeren Preis für Jüngere zu halten.

Ein Solidaritätsprinzip, nach dem sich bislang auch die Häuser des Herbergswerks finanzierten. Ähnlich einem Länderfinanzausgleich stützten die umsatzstarken Häuser die schwächeren. Das ändert sich nun, die Herbergen sollen eigenständiger kalkulieren. Wer am besten wirtschaftet, erhält in einigen Verbänden schon heute eine Prämie. An den Gesetzen der Betriebswirtschaft kommt das DJH nicht mehr vorbei - auch, um sich gegen die wachsende Konkurrenz der Billig-Hotelketten zu behaupten.

Die Zukunft hat Herbergsvater Martin Djoleff in der Augustusburg bei Chemnitz fest im Blick. Wer in seinem Haus Urlaub macht, kann gleich heiraten. Einmal pro Woche kommt ein Standesbeamter in das Renaissanceschloss und nimmt Braut und Bräutigam das Jawort ab. Über einen roten Teppich schreiten die Frischvermählten durch den Hof in das Brunnenhaus. Außen hängt das Hirschgeweih, drinnen liegt die Flasche Sekt im Kübel - den hievt das Paar dann aus dem Brunnenschacht. "Der 7. 7. 2007 ist schon lange ausgebucht", sagt Djoleff. Der vorsorgende Herbergsvater lässt gerade eine passende Suite bauen, mit Bidet, Minibar - und Himmelbett. "Für die nächste Generation Herbergsgäste."

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Tim Cappelmann, Iris Hellmuth und Björn Lux

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