Oft ist es Liebe auf den ersten Blick, und meist beginnt sie bereits, wenn man noch ganz klein ist.
Einst ging dem ersten Rendezvous eine wahre Odyssee voraus: Man saß endlos in brüllender Hitze auf verstopften Straßen in einem vollgestopften Auto, nicht selten war es ein Käfer. Man besichtigte unterwegs pflichtbewusst Kirchen, Burgen und dergleichen mehr. Man musste sich übergeben, bekam danach kein Eis mehr - "davon wird dir nur schlecht" -, worauf einem noch schlechter wurde. Man übernachtete in allerlei übermöblierten Hotels. Man stritt sich mit seinen Geschwistern und quengelte auf dem Rücksitz herum, worauf die Eltern gegen die Langeweile in Gesänge ausbrachen. Man spielte stundenlang "Ich sehe was, was du nicht siehst". Und als man endgültig jede Hoffnung aufgegeben hatte, jemals diesen funkelnagelneuen Bikini zu tragen, der irgendwo am Grunde des Kofferkastens ruhte, zwischen Flossen, Luftmatratzen und Sonnenöl, war es dann endlich da. "Das Meer!"
Heute nimmt man zum ersten Kennenlernen häufig das Flugzeug, doch das Ergebnis ist dasselbe. Das Meer ist da. Und was für ein Meer. So anders als die anderen Meere, die man bisher gesehen hat. Die Nordsee mit ihren blassen Horizonten, die graue Ostsee mit ihren Strandkörben. Dieses Meer dagegen ist blau und wunderbar, es ist das Meer der Meere, es ist das Mittelmeer.
Am Mittelmeer gibt es keinen Griesbrei, sondern Honigmelonen, am Mittelmeer gibt es keinen Rosenkohl, sondern Ratatouille, am Mittelmeer gibt es keine Fischstäbchen, sondern Frittura mista, Couscous oder Lammbraten mit Thymian und Knoblauch. Und vor allem wimmelt es von Kindern, die noch kleiner sind als man selbst, und von denen niemand findet, dass sie ins Bett gehen sollen.
Verliebt in das Meer
Das Leben, so merkt man hier erstmals, kann auch ganz anders sein. Nämlich frei von "Zieh dir was Warmes an, sonst holst du dir den Tod", frei von "Putz dir die Zähne, und danach ab ins Bett". Und stattdessen proppevoll mit Weintrauben, Sommerkleidern, Sandalen, Schnorcheln, Rosmarin, Badeanzügen und Basilikum. Man will hier bleiben und sonst nirgendwo. Man ist verliebt in das Meer.
Später ist man auch verknallt, in einen Luis von Ibiza oder in eine Gracia aus Brindisi, in einen Jean-Marc aus Sainte-Maxime oder in eine Britt aus Schweden, in einen Ali aus Tunesien oder in eine Bridget aus Liverpool.
Das ist die Interrail-, Billigcharter- oder VW-Bus-Phase, wenn man ohne Eltern und mit Schlafsack wahllos auf griechischen Inseln, an spanischen Küsten, irgendwo in der Nähe von Rovinj in Kroatien, Djerba in Tunesien oder sonst irgendwo übernachtet, betrunken, bekifft, beglückt. Man weiß, alles kann passieren; es passiert auch einiges. Luis betrügt einen mit Fernando und Gracia mit Giancarlo, Jean-Marc verschwindet spurlos. Ali bittet einen schon nach drei Tagen um ganz viel Geld für seine sterbenskranke Mutter. Und Bridget sieht Monate später am Bahnhof von Karlsruhe gar nicht mehr so toll aus wie auf Mykonos, oder war es Hydra?
Alte Sehnsucht
Irgendwann wird man erwachsen, man ist nicht mehr verknallt, sondern verheiratet und hat Kinder. Längst hat man andere Meere gesehen, den Pazifik, den Atlantik, den Indischen Ozean. Man war in Kalifornien oder auf Cape Cod, in Jamaika oder auf Hawaii, in Vietnam oder in Island, in der Bretagne oder auf Phuket. Sicher, es war schön, sehr schön sogar. Doch man sehnt sich immer zurück; es ist, als wäre das Mittelmeer die Mutter aller Meere.
Und das ist es ja irgendwie auch. Drei Kontinente und 21 Staaten plus Gibraltar liegen an seinen Gestaden, drei Weltreligionen prallen dort aufeinander. Hier leben Araber und Türken, Katholiken und Orthodoxe, Muslime und Juden, Maroniten und Kopten. Das Mittelmeer war über Jahrtausende der Mittelpunkt der Welt, es ist die Wiege unserer Hoch- und Tiefkultur. An seinen Ufern wurden der Monotheismus, die Mafia und der Massentourismus erfunden, hier erdachte Homer die Ilias und die Odyssee, Pythagoras seinen Satz, Platon den idealen Staat, Epikur den Hedonismus und ein Unbekannter die Pizza. Das Mittelmeer inspirierte Nikos Kazantzakis zu seinem Roman "Alexis Sorbas", Gilbert Trigano zur Gründung des Club Méditerranée, Françoise Sagan zu ihrem Buch "Bonjour Tristesse", Woody Allen zum Film "Vicky Cristina Barcelona" und einen gewissen Ralph Maria Siegel zum schaurigen Lied "Die Capri-Fischer", wo erst "die rote Sonne im Meer versinkt" und gleich anschließend "vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt". Und wir Deutschen lernten an der Costa Brava, an der Riviera und an der Côte d'Azur, dass es auch ein Leben jenseits von Wolkenstore und Jägerzaun gibt und anderes zu essen als Käseigel und Nudelsalat.
An den Stränden des Mittelmeers tummelten sich Steinzeitmenschen, die vor mehr als 5500 Jahren auf Malta so rätselhafte Megalithmonumente errichteten, dann kamen Ägypter, Phönizier, Hebräer, Griechen, Römer, Karthager, Byzantiner, Mauren, Osmanen, Genueser, Venezianer; viel später folgten Brigitte Bardot in Saint- Tropez, Grace Kelly und ihre Prinzen-Kinder Caroline, Albert und Stéphanie in Monaco, Claudia Schiffer auf Mallorca, Sharon Stone beim Filmfestival von Cannes, Flavio Briatore auf Sardinien, und Millionen von Touristen in Benidorm oder Antalya, im Ballermann oder in Rimini. Es ist einerseits eine gigantische Klatschspalte mit wohltemperiertem Wasser, andererseits ein lebendiges Geschichtsbuch und zugleich so schön wie ein Gemälde von Matisse. Welches Meer bietet mehr?
Schauplatz vieler Kriege
Zivilisationen sind hier entstanden und wieder untergegangen, es wurde niedergebrannt, gemetzelt und gemordet, Gefangene wurden selten gemacht, sondern stattdessen abgehackte Köpfe als Kanonenkugeln benutzt oder die Leichen der Feinde an Kreuze genagelt und ihren Gefährten mit der Strömung zurückgeschickt. Kreuzzüge wurden geführt und gewaltige Schlachten geschlagen, von Karthago bis Salamis, von Malta bis Lepanto, von Abukir bis zu den Dardanellen. Hier überschneiden sich Traumurlaub und Albtraum, es ist auch ein trauriges und mörderisches Meer, Schauplatz des Kampfes der Kulturen und Armutsgrenze zwischen Nord und Süd. Es verbindet und trennt die Völker, die hier leben. Manchmal werden Menschen zu Brüdern, häufiger werden Brüder zu Feinden, immer wieder verjagt, von Ost nach West, von Nord nach Süd und umgekehrt.
An seinen Gestaden wurde 1922 Smyrna an der Ägäis mitsamt seiner griechischen, armenischen und jüdischen Bevölkerung von der Armee Atatürks verbrannt; heute ist es eine gesichtslose Millionenstadt und heißt Izmir. In den 30er Jahren tobte der spanische Bürgerkrieg. General Francisco Franco triumphierte in der Schlacht von Málaga und später auch im republikanischen Barcelona, das von Hitlers "Legion Condor" bombardiert wurde; anschließend herrschte er 36 Jahre lang, ohne zu teilen.
Wo die arabischen Völker rebellieren
Weiter östlich fand nach der Shoah der Exodus der überlebenden Juden von Ost- und Nordeuropa via Italien und Zypern in den Orient statt. Israel wurde gegründet, Millionen bekamen ein Zuhause, Millionen verloren ihr Zuhause und leben seither in Flüchtlingslagern. Hier wurde Algerien 1962 nach einem entsetzlichen Krieg gegen Frankreich unabhängig, es folgte wieder ein Exodus, diesmal von Süd nach Nord. "La valise ou le cercueil", der Koffer oder der Sarg, das war die Alternative für die "pieds noirs", die französischen Algerier. 900.000 wählten den Koffer, unter ihnen der Schriftsteller Albert Camus, der Modemacher Yves Saint-Laurent und der Sänger Enrico Macias.
Vor mehreren Jahren bombardierten die Israelis im Konflikt mit der Hisbollah den Libanon und 2008 den Gazastreifen. Seit Anfang 2011 rebellieren die unterjochten arabischen Völker: Erst wurde der tunesische Diktator Zine El-Abidine Ben Ali nach 23 Jahren Alleinherrschaft vom eigenen Volk ins saudische Exil verjagt, wenig später folgte ihm der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak, dann rebellierte das Volk in Libyen.
Brodelnde Vulkane
Die mediterrane Welt ist somit ein prekärer Lebensraum, der beständig brodelt. Das ist auch ganz wörtlich zu verstehen: Einer der größten Vulkanausbrüche aller Zeiten zerriss die Insel Santorin vor dreieinhalbtausend Jahren in zwei Teile und löste eine 60 Meter hohe Flutwelle aus, die ganze Kulturen vernichtete. Noch 1908 starben 60.000 Menschen beim Erdbeben von Messina; Ätna, Stromboli und insbesondere der Vesuv bei Neapel kochen vor sich hin. Der begrub einst Herculaneum, Stabiae und Pompeji unter seiner Asche und gilt als einer der gefährlichsten Vulkane der Welt; in seiner unmittelbaren Nähe leben rund drei Millionen Menschen.
Und doch wird dieses Meer geliebt wie kein zweites, weil alles hier seit Jahrtausenden zusammenströmt und immer wieder miteinander vermischt wird - Menschen, Religionen, Ideen, Ideale. Im Libanon stehen römische Tempel, in Montenegro findet man osmanische Moscheen, in Spanien ist die Musik arabisch, in Marokko sind die Klänge andalusisch. Wer hier durch die Gegend reist, stößt auf Uraltes, auf Altes, auf Funkelnagelneues. Supertanker und Fischerboote, wie sie schon die Zeitgenossen Homers benutzten, verträumte Inseln und chaotische Millionenstädte wie Athen, Algier oder Marseille, einsame Buchten und scheußliche Bettenburgen, Tel Aviv, das gerade mal ein Jahrhundert alt ist, und das etwa 5000-jährige Byblos, gigantische Industriekomplexe wie der in Mestre und gleich daneben das Gesamtkunstwerk Venedig.
Nichts passt zusammen, doch alles stimmt. Und wenn die Menschen, die hier leben, nicht gerade damit beschäftigt sind, übereinander herzufallen, tun sie eigentlich alle das Gleiche. Sie bauen Oliven an, sie kochen auf das Schönste, sie halten Siesta, sie hupen wie verrückt, sie lieben Musik und Mobiltelefone, sie lachen viel und feiern oft, und die Frauen färben sich die Haare blond. Ob in Beirut oder in Nizza, ob auf Korsika oder in Bodrum, überall sitzen alte Männer am Hafen, spielen Backgammon oder Karten und trinken dazu Anisschnaps, sei es Pastis oder Arak, Raki oder Ouzo.
Mindestens einmal im Jahr möchte man sich dazusetzen, auf der Suche nach dieser so wunderschönen verlorenen Zeit. Und so hockt man nach einem faulen Tag in der Sonne frisch geduscht auf einer Terrasse am Sehnsuchtsmeer, kauft seinen Kindern Eis, trinkt einen Aperitif, tunkt Brot in Olivenöl, streut Salz drauf, betrachtet den Sonnenuntergang und hat dieses satte, pralle Glücksgefühl. Dann ist es Zeit, zum Abendessen zu gehen.