Bayern-Debakel gegen Real Madrid Wer san mia eigentlich?

Das 0:4 gegen Real Madrid offenbart auf schmerzliche Weise, dass Trainer Pep Guardiola an seinen eigenen Kompromissen zu scheitern droht. Die Identität der Mannschaft ist so unklar wie nie.

Da saß er nun, die Niederlage noch so frisch wie der Schock, den sie verursachte. Der Vorstandsvorsitzende Karl-Heinz Rummenigge hatte ihn eben noch in der Kabine besucht, zusammen mit dem spirituellen Präsidenten Uli Hoeneß. Und weil es dann doch ziemlich lang dauerte, bis Pep Guardiola auftauchte auf dem Podium der Allianz-Arena, hatte man schon das Schlimmste befürchtet. Aber das 0:4 gegen Real im Halbfinale hatte dann natürlich keine persönlichen Konsequenzen für den Trainer.

Wenn ein Coach wie Guardiola etwas gelernt hat, dann Haltung zu bewahren. Große Niederlagen sind auch ihm, bislang so chronisch erfolgreich beim FC Barcelona und jetzt in München, ein ungebetener Begleiter geblieben. Den Bayern fuhr sie wie ein heftiger Stich in die Glieder, nie sind die Münchner in einem Spiel vergleichbarer Größe ähnlich heftig verdroschen worden. Keine Niederlage leuchtete so grell wie diese. Sie wird wohl noch lange strahlen.

Null zu vier. Gegen Real.

Guardiola hat seiner Elf zu viel zugemutet

Die Hölle hatte Karl-Heinz Rummenigge gefordert. Nun, er hatte sie bekommen. Eine "tough Nacht für uns, für mich", attestierte Guardiola denn auch mit dieser Milde, wie sie Menschen umgibt, die Dinge in größeren Zusammenhängen sehen. Er verströmt dann eine Nachdenklichkeit, die alles im Fluss erscheinen lässt. Nichts scheint von maximaler Bedeutung.

Dieses 0:4 trug seine Handschrift, er wusste es. Er hat dieser Elf zu viel zugemutet in den letzten Wochen. Hat sie verwirrt. Beinahe schien es zuletzt, als habe er auf halbem Weg zum neuen Bayern-Fußball plötzlich kehrt gemacht und sei wieder einige Meter zurückgeilt. Die Sicherheit der eigenen Entscheidung, sie hat ihn in den letzten Wochen verlassen.

Das neue Bayern - ein großes Projekt

Neu erfunden hatte er die Bayern nach dem Triple. Ein großes Projekt. Die alte Bayern-Identität – sicher stehen und dann gezielt nach vorn stoßen – sie war einem Fußball gewichen, wie man ihn in der Bundesliga noch nicht gesehen hatte. Das Spiel seiner Elf verlagerte Guardiola fortan in des Gegners Hälfte, der Ball sollte zirkulieren, schnell. So hatte er Barcelona erschaffen. So sollten auch diese Bayern spielen.

So spielten die Bayern dann ja auch, man darf das nicht vergessen. Sie dominierten diese Bundesliga, jedes Spiel, wie keine Elf zuvor. Nicht mit der Wucht ihres Kaders, sondern durch die Kunst ihrer Passstafetten. Der Kapitän Philipp Lahm zog als Metronom im Mittelfeld jetzt die Fäden. Er war es, der diese neuen Bayern nun lenkte, ruhig, gezielt. Nichts schien die Elf erschüttern zu können, selbst ständige Wechsel des Personals nicht.

Guardiola leitete den Abschwung ein

Der Abschwung, er kam schleichend. Nicht Verletzungen, nicht Pech hatten ihn eingeleitet, Guardiola selbst war es. Zu viele heimliche Kompromisse ging er in den letzten Wochen ein. Zunächst versuchte er krampfhaft, Co-Kapitän Bastian Schweinsteiger im Mittelfeld zu verankern, obwohl der seine Rolle gerne freier interpretiert und damit selbst die eigenen Kollegen ab und zu vor Rätsel stellt. Es ehrte Guardiola, dass er Schweinsteiger nicht seiner Idee opfern wollte. Nun schien das Gegenteil der Fall. Immer wieder baute der Spanier die Elf um, allein sie sah Woche für Woche ein bisschen weniger nach Guardiola aus.

Guardiola nahm billigend in Kauf, dass Instinktfußballer wie der auch in dieser Saison hocheffektive Thomas Müller plötzlich über ihre eigene Rolle zu rätseln begannen. Alle sollten sie sich mitgenommen fühlen, ein jeder auf seine Einsatzzeiten kommen. Also stellte er etwa den Spanier Martinez, der noch im Vorjahr als Stabilisator des Mittelfelds galt, zwischendurch in die Verteidigung, weil er im Mittelfeld keine Verwendung für ihn fand. Nun, in der Endphase der Saison, tauchte Martinez plötzlich doch wieder als Teilzeitkraft im Mittelfeld auftauchte. Ohne Spielpraxis. Zu spät.

Guardiolas Zweifel

Und doch waren es nicht Martinez, nicht Müller, nicht Schweinsteiger, nicht der formschwache Ribery, an denen man am besten Guardiolas Ringen mit der besten Formation festmachen kann. Mehr als alle anderen steht jener Mann für die Zweifel des Trainer, den Guardiola noch im Sommer zu seinem Kronprinzen kürte: Philipp Lahm.

Als seinen Taktgeber im Mittelfeld hatte er Lahm neu erfunden. Doch als es gegen Real im bislang wichtigsten Spiel dieser Saison wirklich zählte, fand sich Lahm wieder auf seiner rechten Außenverteidigerposition wieder. Man fragte sich, wofür Guardiola den heftigen Eingriff in die Identität dieser Elf überhaupt vorgenommen hatte, wenn er sich in der Stunde der Entscheidung selbst misstraute.

Überall Kompromisse

Ausgerechnet im entscheidenden Spiel des Jahres hatte ihn der Glaube in die eigene Maßnahme verlassen. Überall Kompromisse. Hatte er am Ende in den Verästelungen der Taktik, im Ringen um die besten Lösungen, das Hauptziel aus den Augen verloren – nämlich eine Elf zu entwickeln, die einander vertraut? Und ihren Weg zum Ziel kennt?

Es spricht für Guardiola, dass er in der Stunde der Schmach jede Schuldzuweisung in Richtung seiner Spieler unterließ. Ein solcher Schritt hätte ihn allerdings auch das kostbarste Gut eines jeden Trainers kosten können – die eigene Glaubwürdigkeit. "Es war ein riesen Fehler des Trainers. Ich hatte heute nur Basti und Toni, mit diesen Spielern kann man das Spiel nicht kontrollieren."

Basti und Toni. Schweinsteiger und Kroos. Kein Lahm.

Wer und was ist Bayern München?

Es sind große Fragen, die sich nach der Nacht vom Dienstag stellen. Guardiola selbst brachte sie noch in der Stunde der Niederlage auf. Können diese Bayern überhaupt so spielen, wie es seiner Obsession entspricht – mit Ball am Fuß, auf Angriff, immer. Am Dienstag war es Real Madrid, das die Bayern mit ihren alten Waffen schlug – auch dieser Umstand lässt die Niederlage noch ein bisschen mehr schmerzen.

Die echten Bayern hängen irgendwo fest zwischen ihrer alten Identität und der neuen von Guardiola. Eine große Ungewissheit liegt deshalb über dem Pokalinfale am 17. Mai. Sie mag schwer verständlich erscheinen nach einer Saison, in der die Bayern in allen Wettbewerben bis zum Schluss mitmischten. Und doch: Wer und was ist Bayern München?

Ist Ballbesitz die falsche Spielidee?

Vielleicht sei es nicht das Beste, mit dieser Elf den Ballbesitz zum Ziel zu haben, stellte Guardiola noch fest nach dem Spiel. Es war ein großer Satz. Hatte er die Bayern mit der falschen Spielidee versehen? Ein Jahr lang?

Viel wird davon abhängen, ob Guardiola sich neu wird erfinden können. Für den FC Bayern, aber auch für ihn selbst. Entweder wird Guardiola seinen Weg in aller Konsequenz zu Ende gehen müssen, ohne Rücksicht auf alte Verdienste einzelner Spieler. Oder sein Ideal vom Fußball den Realitäten angleichen. Man darf jetzt schon gespannt sein, welche Bayern da gegen Dortmund am 17. Mai aufs Feld treten werden.

Sie werden dann erstmal Außenseiter sein. Unglaublich eigentlich, nach dieser lange so spektakulären Saison.

Von Mathias Schneider, München

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