Jupp Heynckes ist nicht gerade bekannt für Emotionsausbrüche. Bayerns Trainer ist als Typ eher kühl und nüchtern. Aber wenn es um das Spiel seiner Mannschaft am Abend bei Real Madrid geht, kann sich selbst der ruhige Analytiker nicht mehr zurückhalten. Das Champions-League-Halbfinale sei ein "Kampf der Giganten". Auf der Abschlusspressekonferenz der Bayern sah man Heynckes die Vorfreude auf diese Partie an. Der Trainer redete mehr als sonst, er schwärmte. Ja, auch von Real Madrid. Der Klub, mit dem er 1998 die Champions League gewann. Diesen Traum will sich Heynckes mit den Bayern nun noch einmal erfüllen. Mit 2:1 gewann der deutsche Rekordmeister das Hinspiel vor acht Tagen in München. Es ist ein 50:50-Spiel, ein Finale ums Finale. Und klar ist: Die Bayern brauchen eine außergewöhnliche Leistung, damit aus der in München so intensiv gelebten Fantasie vom Endspiel im eigenen Stadion Wirklichkeit wird. Das sind die Fakten zu diesem Highlight des europäischen Klubfußballs.
Das Stadion
Das Estadio Bernabéu ist natürlich ausverkauft. 81.000 Fans werden die Arena bis auf den letzten Platz füllen, darunter rund 4000 Anhänger der Bayern. Die werden sich genau wie Spieler auf eine fanatische Stimmung gefasst machen müssen. José Mourinhos persönlicher Pressesprecher (!) Eladio Parames fasste das, was auf die Bayern zukommt, in martialische Worte. Nicht weniger als die "Hölle" werde die Münchner im Bernabeu erwarten.
Und dann wäre da noch die Sache mit dem Geist. Am Dienstag machte das Real-nahe Sportblatt "Marca" mit einem Titel in deutscher Sprache auf: "90 Minuten im Bernabéu sind sehr lang." Das Zitat wird der Real-Legende Juanito zugeschrieben, der in den 1980er-Jahren bei den Königlichen spielte. "90 minuti en el Bernabéu son molto longos", machte der im Alter von 37 Jahren bei einem Autounfall verstorbene und bis heute überall Verehrte seinen Mitspielern Mut und den Gegnern Angst. Juanito war einer, der nie aufgab. Deswegen beschwören die Fans im Bernabéu-Stadion in jeder siebten Minute eines Heimspiels mit Sprechchören seinen Geist. Aber auch immer dann, wenn ihre Mannschaft Rückstände drehen muss. Die Bayern müssen in Madrid auch zu Geisterjägern werden.
Die Bilanz
Statistisch betrachtet geht der FC Bayern als Favorit in den Europapokal-Klassiker gegen Real Madrid. Vor dem Halbfinal-Rückspiel haben die Münchner von 19 Partien in der Königsklasse sowie dem früheren Europapokal der Meister elf gewonnen, die Spanier dagegen nur sechs. Die Bilanz in den bislang acht K.o.-Runden ist dagegen ausgeglichen, beide Vereine kamen jeweils viermal weiter. Die Halbfinal-Bilanz spricht jedoch wieder klar für die Bayern: Sie schafften dreimal den Einzug ins Finale (1976, 1987, 2001), Real Madrid nur einmal (2000). Im Bernabéu gab es für die Bayern aber bis jetzt nur wenig zu holen. Genauer gesagt setzte es sechs Niederlagen. Zwei Siege stehen dem gegenüber.
Die Taktik
Selten hatte ein von José Mourinho trainiertes Team so viele Probleme wie Real im Hinspiel. Vor allem im zentralen Mittelfeld passte es hinten und vorne nicht. Auch die Viererkette stand oftmals viel zu tief. Die Sechser fanden kaum Anspielstationen. Das wird sich ändern - weil Real jetzt ein Heimspiel hat. Vor eigenem Publikum tritt die Mannschaft enorm offensiv und kompakt auf und ist immer für zwei, drei Tore gut. Das liegt vor allem auch an Mesut Özil und Cristiano Ronaldo, die sich mittlerweile beinahe blind verstehen. Fakt ist: José Mourinho kann seine Mannschaft zum entscheidenden Zeitpunkt taktisch erstklassig einstellen. Das bekam Barcelona im Clásico gerade zu spüren.
Und die Bayern? Die werden sicher nicht auf ein torloses Remis aus sein, das ist nicht ihre Art zu spielen. Eine defensive Grundeinstellung ist also nicht zu erwarten. Philipp Lahm soll wie in München wieder Cristiano Ronaldo auf die Füße treten, Luiz Gustavo die Kreise von Regisseur Mesut Özil eingrenzen. Ob ihm dabei Bastian Schweinsteiger helfen wird, steht noch nicht fest. Das will Heynckes erst nach einem Gespräch mit dem Vize-Kapitän am Mittwoch entscheiden. Nach überstandener Verletzung ist der Mittelfeldstar immer noch auf Formsuche. Er selbst fühle sich aber frisch und meint: "Ich will der Mannschaft helfen, ins Finale zu kommen." Spielt Schweinsteiger, muss Müller auf die Bank.
Der Schiedsrichter
Der ungarische Spitzen-Schiri Viktor Kassai leitet die Partie. Für die Bayern ist das ein gutes Omen: Der 36-Jährige pfiff bisher zwei Begegnungen der Münchner in der Königsklasse: In der vergangenen Saison war er beim 1:0 der Bayern im Achtelfinal-Hinspiel bei Inter Mailand im Einsatz, in der laufenden Spielzeit leitete er die Partie gegen Manchester City (2:0). Der Reisekaufmann spricht fließend Deutsch und Englisch und leitete auch das jüngste Finale der Champions League im Mai 2011 zwischen dem FC Barcelona und Manchester United. Kassai ist bekannt für eine eher großzügige Spielauslegung - das dürfte die Bayern freuen. Warum? Nächster Punkt!
Alarmstufe Gelb
Sollten die Bayern das Endspiel im eigenen Stadion erreichen, droht ihnen ein Horror-Szenario. Gleich sieben Spieler gehen vorbelastet ins Rückspiel. David Alaba, Holger Badstuber, Jerome Boateng, Luiz Gustavo, Toni Kroos, Philipp Lahm und Thomas Müller wären bei einer weiteren Verwarnung im Finale gesperrt. Für Jupp Heynckes stellt das aber kein Problem dar. "Meine Spieler sind intelligent. Sie wissen genau, wann sie hingehen und wann sie wegbleiben müssen. Sie können eine Sperre verhindern, wenn sie aufmerksam, sehr konzentriert und fokussiert auf das Geschehen auf dem Platz sind", so der Trainer nach dem 2:1 im Hinspiel.
"Wir müssen aufpassen", meint dagegen der betroffene Badstuber, "andererseits müssen wir genauso ins Spiel gehen wie immer. Es macht ja keinen Sinn, sich da Gedanken zu machen." Der klügste Kommentar zur gelben Gefahr bei den Bayern stammt von Uli Hoeneß: "Wenn wir im Endspiel sind, dann reden wir darüber, wie viele Spieler wir zur Verfügung haben. Es nützt uns gar nichts, keine Gelben Karten zu bekommen, wenn wir am Mittwoch verlieren." Apropos Hoeneß. Der Präsident brachte die große Nervosität vor dem Duell mit einem erstaunlichen Zitat auf den Punkt: "Es ist so, dass ich zum ersten Mal seit langer, langer Zeit jetzt auch nachts wieder an ein Fußballspiel denke." Hätte man jetzt nicht unbedingt von Hoeneß gedacht.
Das Geheimnis
Nervosität, Anspannung, Druck: Die Bayern sind vor der Partie gegen Real im Tunnel und voll fokussiert. Der FC Barcelona war das vor seinem Spiel gegen den FC Chelsea offenbar nicht. Eine kleine Anekdote, die Bayerns Pressesprecher Markus Hörwick am Dienstagabend den Bayern-Reportern beim Abendessen erzählte, dient dafür als Beleg. Hörwick berichtete von einem Anruf des FC Barcelona in den vergangenen Tagen bei den Bayern. Dabei erkundigte sich der Champions-League-Titelverteidiger über die Hotelkontingente für den Finaltag am 19. Mai in München. Hochmut kommt eben doch vor dem Fall. Den Bayern liegt das fern. Sie sind bereit, durch die Hölle zu gehen.